PROKOP, Dieter (2009): Ästhetik
der Kulturindustrie. Tectum Verlag, Marburg / ISBN 1867-769X
Auszug:
EINLEITUNG
"[...] to see with our
own eyes."
William Hogarth ([1753] 1995: 34)
Begriffsklärung
Ästhetik
'Ästhetik' verstehe ich als Theorie der gelungenen oder misslungenen
Qualität der Gestaltung (Form und Inhalt) von kulturellen Produkten.
Ich möchte objektive, begründete Urteile über das gut
Gemachte und das schlecht Gemachte ermöglichen. Bei den kulturindustriellen
Produkten, vor allem den Medienprodukten, geht es mir um die Kunst der
Zuspitzung, der Verdichtung, der Inszenierung; um die Struktur des gut
Unterhaltenden, gut Informierenden, Witzigen, Intelligenten und des schlecht
Gemachten, Langweiligen, Anödenden, Dummen.
Ich 'positioniere' mich - wenn man sich schon 'positionieren' muss -
definitiv gegen die 'Wahrnehmungsästhetik' oder 'Aisthetik'. Ich
behaupte: Man kann die Qualität eines kulturellen Produkts nicht
als 'Erscheinung' betrachten. die man 'mit den Sinnen' erfühlen
kann, da braucht man Verstand und vor allem: Informationen, Kenntnisse,
Wissen.
Und damit aus dieser Abgrenzung keine Missverständnisse entstehen,
muss ich klären: Das bedeutet nicht, dass damit das Subjekt ausgeschlossen
wird! Ohne Subjekte, die zunächst einmal subjektiv empfinden, gibt
es gar keine ästhetischen Urteile und auch keine guten Kritiken.
Wer sich über ein mieses Produkt nicht ärgert, kann keine gute
Kritik schreiben. In seiner Kritik aber, auch wenn sie ein Verriss ist,
muss der wütende Kritiker seine Empfindung objektivieren. d.h. intersubjektiv
begründen. Dasselbe gilt für Wissenschaftler.
Jetzt muss ich klären,
was ich unter 'Kulturindustrie' verstehe und auch, welche 'kulturindustriellen'
Produkte ich per definitionem
in den Vordergrund stelle.
Kulturindustrie
'Kulturindustrie' - das sind
vor allem die Medien, die Massenmedien. Aber Kulturindustrie, das sind
auch Mode, Sport, Fußballweltmeisterschaften,
Olympische Spiele, Popmusik, der Kunstausstellungs-Betrieb, der Literatur-Betrieb,
Musicals, Werbung, Design und auch Wahlkämpfe. Es kann also hier
nicht nur um 'Medienästhetik' gehen.
'Kulturindustrie' gibt es nicht erst heute. Massenmedien gibt es seit
der Antike und eine erste Kulturindustrie bereits im späten Mittelalter,
als sich kirchliche Interessen an einer verstärkt an Gefühle
appellierenden Bildpropaganda mit kirchlichen Interessen am Ablasshandel
verbanden. (s. D. Prokop 2001) Die nach Gutenberg folgenden Flugblätter,
Flugschriften waren Massenmedien, und die protestantische Bildpropaganda,
die sich ihrer bediente, war 'Kulturindustrie'. Wir werden Beispiele
auch dieser frühen Kulturindustrien behandeln.
Die Realität der heutigen Kulturindustrie besteht in oligopolistischen
Produktions-, Distributions- und Marktbedingungen. Dazu kommt, dass die
Oligopolisten große Firmen und Konzerne sind, die weltweit agieren,
suprationationale Konzerne. Wenn diese Bedingungen im Bereich der Herstellung
kultureller Produkte gegeben sind, sind sie die 'Kulturindustrie', das
ist ihr wesentliches Merkmal. Die oligopolistischen Produktions-, Distributions-
und Marktbedingungen haben Auswirkungen auf die Produktionsweisen, die
Produktstrukturen und die Konsumtionsweisen.
Oligopolistische Märkte sind keine freien Märkte. Freie Markte
sind polypolistisch strukturierte Märkte, mit vielen Anbietern,
die alle ungehinderten Zugang zu den Produktionsmitteln, Autoren, Stars
und Distributionsmitteln haben. Oligopolisten und Monopolisten können
diesen freien Zugang unterbinden. Oligopolisten haben genug Kapital,
um Produktionsmittel, Autoren, Stars und Distributionsmittel an sich
zu binden; Oligopolisten können untereinander Absprachen treffen
und Marktregionen untereinander aufteilen, also Monopole bilden. (Monopole
sind illegal, kamen und kommen trotzdem immer wieder vor. Bis der ungesetzliche
Zustand festgestellt und behoben wird, vergehen Jahre, in denen der Monopolist
vom ungesetzlichen Zustand profitiert.)
Es sind also nicht böse Allgemeinheiten wie 'der Kapitalismus' oder
'das Profitmotiv' oder 'der Warencharakter' oder 'die warenproduzierende
Gesellschaft', die die Medien und die Kultur prägen oder 'gleichförmig
machen' oder was sonst noch. Was die Medien und die Kultur prägt,
sind oligopolistische Produktions-, Distributions- und Marktbedingungen
mit Monopoltendenzen.
'Oligopolistische Produktions-,
Distributions- und Marktbedingungen' - das hat nicht nur ökonomische Dimensionen, sondern auch politische
und gesellschaftliche: Kulturindustrie ist ein Machtkomplex. Ihm gehören
an:
1. Die 'Geldgeber', die Werbungtreibenden: große Konzerne und Verbände:
Industrieunternehmen, Handelsunternehmen, Kreditinstitute, Dienstleistungsunternehmen,
Versicherungsunternehmen, Interessenverbände, Parteien. Sie geben
Milliarden für Werbung und Propaganda ('Imagepflege', 'Public Relations',
'PR') aus.
2. Die 'Geldnehmer': Medienkonzerne, Werbeagenturen, Markt- und Meinungsforschungs-Firmen,
PR-Firmen, Consulting-Firmen. Sie leben von den Werbegeldern.
Werbung, Imagepflege, Propaganda platziert man dort, wo viele Leute vorbeikommen,
vor allem diejenigen, die man erreichen will. Die Geldgeber brauchen
ein 'zielgruppenspezifisches' bzw. 'milieuspezifisches' Werbeumfeld.
Das finden sie im Umfeld der Medienprodukte, die von den Geldnehmern
mit dem Interesse hergestellt werden, ihr Publikum als 'Zielgruppen'
bzw. 'Milieus' an die Geldgeber zu verkaufen. Am besten verkaufen sich
kaufkräftige und/oder zumindest kauffreudige 'Zielgruppen' bzw.
'Milieus'. Verkauft werden 'Kontakte' der Leute im Publikum, Kontakte
mit den Medien ('Tausenderkontaktpreis').
Die Geldnehmer gestalten die Produkte, die Vermarktungs-Strategien und
die 'wissenschaftlichen' Zielgruppen- und Milieu-Typologien auf eine
Weise, die es ihnen ermöglicht, den Geldgebern das Geld aus das
Nase zu ziehen. Das ist das ganze Geheimnis der Kulturindustrie.
(Zum kulturindustriellen Machtkomplex: D. Prokop 2005b)
Zur Sache
Abhängige Wissenschaft / Unabhängige
Wissenschaft
Wissenschaftler, die es als
ihre Aufgabe ansehen, Wissenschaft im Interesse der Geldgeber zu betreiben,
messen die Qualität von Medienprodukten
daran, ob jene ein Werbeumfeld sind - die Medienprodukte sind für
diese Wissenschaftler bloß ein Umfeld für die Werbung! -,
an dem die Geldgeber interessiert sind; ob dieses Umfeld zum Beispiel
'zielgruppenspezifisch' oder 'milieuspezifisch' genug ist. Je mehr Werbegelder
einfließen, desto besser ist für sie das Medienprodukt. Ästhetische
Fragen, Gestaltungsfragen sind für sie Fragen der Herstellung von
Aufmerksamkeit ('Awareness'): Schafft Deutschland sucht den Superstar genug Aufmerksamkeit bei den jungen Konsumfreudigen? Wie muss das Medienprodukt
gestaltet sein, damit sich die Aufmerksamkeit für das Produkt zur
Aufmerksamkeit für das eigentliche Feld, den Werbespot umwandelt?
Wie muss ein Werbespot gestaltet sein, damit sich die Aufmerksamkeit
für den Werbespot in ein Kaufinteresse oder gar Kaufverhalten umwandelt?
Das sind die 'Gestaltungsfragen', für die sich Wissenschaftler interessieren,
die Wissenschaft im Interesse der Geldgeber betreiben. Ihr Interesse
ist instrumentell. Es ist auch nicht ganz seriös. Zum Beispiel kehren
diese instrumentellen Wissenschaftler die Tatsache unter den Tisch, dass
die Umwandlung von Werbung in reales Kaufverhalten nur selten funktioniert.
Das ist ein Tabuthema, an das die Auftraggeber der Wissenschaftler nicht
rühren wollen, also tun es auch die Wissenschaftler nicht. Wichtig
ist nur, dass die Geldgeber Anzeigen, Werbespots etc. bestellen.
Wissenschaftler dagegen, die
es als ihre Aufgabe ansehen, Wissenschaft unabhängig von Wirtschaftsinteressen und Parteiinteressen zu betreiben,
beurteilen die Qualität von Medienprodukten daran, ob ihre Gestaltung
(Inhalt und Form) wahr oder falsch, gut oder schlecht, schön oder
hässlich ist. 'Ästhetik' interessiert sie - aber sie wären
keine guten Wissenschaftler, wenn sie das Wahre, Gute, Schöne puristisch
idealisieren und ausschließen würden, dass man auch einen
verlogenen Werbespot als gut gemacht interpretieren kann oder das man
an einem Auto, das in allen Teilen klappert, also schlecht gemacht ist,
dennoch die Schönheit des Karosserie-Designs analysiert.
Demokratische Kulturindustrie
Zweifellos sind freie, polypolistisch
strukturierte Märkte demokratischer
als oligopolistische oder monopolistische Märkte. Aber demokratischer
sind auch öffentlich-rechtliche Strukturen, deshalb möchte
dazu kurz etwas sagen.
'Kulturindustrie' - dabei
denkt man an die 'profitorientierten' Konzerne, die Aktionären oder Privatpersonen oder anderen Konzernen gehören.
Aber auch die öffentlich-rechtlichen Organisationsformen des Radios
und des Fernsehens (in Deutschland 'Rundfunk' genannt) sind Teil der
Kulturindustrie. Es sind Großfirmen (ARD, ZDF), die auf oligopolistisch
strukturierten Märkten agieren. Sie haben inzwischen viele Aspekte
der Produktion an die Privatwirtschaft ausgelagert ('outgesourct'). Sie
sind beim Senderechte-Ankauf von Fernsehserien und Filmen vom oligopolistischen
Medien-Markt, von 'Hollywood' abhängig. Sie werden zwar durch Gebühren
finanziert, aber sie müssen auch gewinnbringend arbeiten und hohe
Einschaltquoten bringen. Auch Werbeeinnahmen spielen für sie eine
Rolle, und immer wieder einmal wird aufgedeckt, dass sie in ihren Fernsehserien
illegale Schleichwerbung machen. Sie haben zwar den Auftrag, Meinungsvielfalt
abzubilden und herzustellen, einen Bildungsauftrag und den Auftrag, für
gute Unterhaltung zu sorgen - aber ob es heute noch eine spezielle 'öffentlich-rechtliche
Qualität' gibt, ist fraglich. (Das sagt selbst der Intendant des
ZDF, s. Schächter 2008)
Dennoch sind die öffentlich-rechtlichen Organisationsformen in einem
'besser': Sie sind eine demokratische Organisationsform. Sie werden von
den 'gesellschaftlich relevanten Gruppen' (Parteien, Gewerkschaften,
Kirchen, Verbänden) konstituiert und kontrolliert.
Neoliberal-konservative Politiker vor allem in der EU-Kommission bekämpfen
diese Organisationsform. Für sie sind öffentlich-rechtliche
Anstalten, die durch 'Zwangsgebühren' finanziert werden (die aber
von den Länderparlamenten, also demokratisch beschlossen wurden),
eine unerträgliche 'Wettbewerbsverzerrung' - wobei der 'Wettbewerb',
den die EU-Kommission durchsetzen will, eine Konkurrenz lediglich von
Großkonzernen auf oligopolistisch strukturierten Märkten ist,
auf denen den Oligopolisten viele Möglichkeiten offenstehen, kleinere
Anbieter auszuschalten. Das ist kein freier Markt und Demokratie schon
gar nicht.
So ganz pluralistisch-demokratisch wie eigentlich vorgesehen sind die öffentlich-rechtlichen
Anstalten allerdings auch nicht, die Macht der politischen Parteien ist
groß. Sie bilden in den anderen repräsentierten Gruppen Freundeskreise,
und so verkrustet alles im Parteien-Proporz. Aber selbst das Hickhack
zwischen parteiloyalen Gremienmitgliedern oder das Hickhack zwischen
parteiloyalen Redakteuren in den öffentlich-rechtlichen Redaktionen
ist immer noch demokratischer als in den kommerziellen Sendern. Dort
gibt es keine Demokratie, dort herrschen konservative Managements und
in den Redaktionen ('Profit Centers', 'Excellence Centers') die Marketing-Fachleute.
Deshalb können wir sagen: Von ihrer Organisationsform, ihrem politischen,
gesellschaftlichen Auftrag her und zu einem (geringeren) Teil auch in
der Praxis sind öffentlich-rechtliche Medien-Organisationen 'demokratische
Kulturindustrie'. Jedenfalls die demokratischste, die wir haben.
(s. auch Wernecke 2008)
Kulturindustrielle Produkte
Kulturindustrie - was die Produkte betrifft, geht es mir dabei um den
'Mainstream': um die weit verbreiteten, erfolgreichen Produkte.
Man könnte einwenden, dass es 'den Mainstream' nicht gibt, weil
sich die Publikumsmärkte heute in die Zielgruppen und Milieus aufgespalten
('ausdifferenziert') haben. Das ist richtig. Immer gibt es jedoch Produkte,
die am erfolgreichsten sind. Die interessieren uns. Verkaufszahlen ('Grosses'),
Einschaltquoten etc. sind unser objektives Kriterium für 'kulturindustrielle
Produkte'. Es ist unabhängig von persönlichem Geschmack.
Mainstream-Produkte im Bereich des Films sind Vom Winde verweht [1939]
und Titanic [1997], sie sind die 'erfolgreichsten Filme aller Zeiten'.
Keine Mainstream-Produkte sind z.B. die Filme von Woody Allen. Aber auch
Rambo [1985] ist kein Mainstream-Produkt, obwohl feine Leute Rambo immer
zum Paradebeispiel für abgeschmackte Massenkultur machen. (Im Erscheinungsjahr
von Rambo war ein anderer Film der kommerziell erfolgreichste: Zurück
in die Zukunft, von Robert Zemeckis, und der ist keinesfalls abgeschmackt.)
Sowohl der 'niveauvolle' Woody Allen als auch der 'niveaulose' Rambo
verkauften sich vergleichsweise schlechter als die zuerst genannten Filme
und sind allein deshalb keine Mainstream-Produkte.
Würden wir im Bereich des Designs von Wasserkesseln nach dem kulturindustriellen
Mainstream-Produkt suchen, müssten wir also den meistverkauften
Wasserkessel ausfindig machen, und das wäre vermutlich nicht der
witzige Wasserkessel von Alessi. Selbst wenn uns der witzige Wasserkessel
von Alessi besser gefiele, müssten wir uns mit dem meistverkauften
Wasserkessel befassen.
Kompliziert wird unser Interesse, weil wir natürlich nicht den Standpunkt
von Produzenten vertreten, die sagen: 'Gut und schön ist, was sich
gut verkauft.' Wir vertreten auch nicht den Standpunkt von Leuten im
Publikum, die sagen: 'Gut und schön ist, was mir gefällt.'
Würden wir uns mit dem Design von sich gut verkaufenden Wasserkesseln
befassen, wäre es unser Interesse, die sich gut verkaufenden und
gut gelungenen Wasserkessel von den sich ebenfalls gut verkaufenden,
aber schlecht gelungenen Wasserkesseln zu unterscheiden. Oder die gut
gelungenen Mainstream-Filme von den nicht gelungenen Mainstream-Filmen.
Wir sind nicht so naiv, den
Mainstream 'Populäre Kultur' zu nennen.
Von 'populärer' Kultur könnte man nur reden, wenn Verkaufszahlen
und Einschaltquoten ein demokratischer Spiegel der Publikumsbedürfnisse
wären. Das sind sie nicht. Was auf oligopolistischen Märkten
erfolgreich ist, spiegelt mehr die Markt-Macht oligopolistischer Konzerne
als die Bedürfnisse und Interessen des Publikums. (Auch Einschaltquoten
sind kein Spiegel der Publikumsbedürfnisse, sondern ein Spiegel
von Markt-Macht. s. D. Prokop 1998)
Manche Apologeten behaupten, dass Verkaufszahlen das Ergebnis einer 'Abstimmung
mit den Füßen' seien - aber wenn sich die Käufer von
ihren Füßen an den Kiosk oder in den Supermarkt oder ins Kaufhaus
tragen lassen, finden sie dort fast nur Produkte der Oligopol-Konzerne.
Jene sind zielgruppen- und milieuspezifisch diversifiziert, aber das
ist nicht die Vielfalt freier Märkte. Die Abstimmung mit den Füßen
ist keine demokratische Abstimmung.
Die Rede von der 'Populären Kultur' täuscht eine Verwurzelung
der Kulturindustrie im Publikum vor, die so gar nicht besteht. Darüber
täuscht nicht nur der Begriff 'populär' hinweg, sondern auch
das Gerede darüber, dass sich manche in den erfolgreichen Themen,
Topoi, Bilder 'tief ins Kollektivbewusstsein, ins kollektive Unbewusste
etc. etc. eingegraben haben'. Das ist mystischer Unsinn.
Womit ich nicht sagen will, dass alle Produkte der Oligopol-Konzerne
schlecht seien. Schließlich trete ich hier nicht als Medienpolitiker auf, der für freie (polypolistische) Märkte und öffentlich-rechtliche
Organisationsformen plädiert (obwohl ich jene für demokratischer
halte, weil sie demokratischer sind). Wir müssen nicht aus medienpolitischen
Gründen schwarzweißmalen. Wir wollen es uns leisten, jenseits
medienpolitischer Überlegungen möglichst genau zu beobachten.
Eine Ästhetik des
Films erscheint selbstverständlich. Über
die Qualität von filmischen Gestaltungsweisen haben sich Viele geäußert.
Filmkritiker haben Filmgeschichten geschrieben und die Innovationen bei
Filmschnitt, Beleuchtung, Ausstattung, Dramaturgie, Schauspielstilen
etc. dargestellt. Oft haben sie Filme als Werke großer Regisseurs-Genies
gefeiert, so als könnten jene niemals Teil der 'banalen Kulturindustrie'
sein, was sie aber seit den 1920er Jahren immer waren. Einigkeit besteht
dagegen darin, dass die Alltagsprodukte der Medien kein Objekt einer Ästhetik
sein können. Das ist aber falsch.
Uns geht es darum, zu überlegen, was an den Mainstream-Produkten
die ästhetische Dimension ist und wie wir deren Qualitäten
oder Nicht-Qualitäten erfassen können.
'Mainstream' ist für mich kein Schimpfwort. Es gibt, wie gesagt,
gute Mainstream-Produkte und schlechte. Aber eins muss klar sein: Popsängerinnen,
die ganz oben auf der Hitliste stehen oder Bestseller-Autoren, die Millionen-Auflage
haben, sollten wir nicht verachten, nur weil sie sich gut verkaufen.
Das können wir nur bei schlechter Qualität, und es ist lächerlich,
alles, was sich gut verkauft, von vornherein als schlecht anzusehen.
Denn es gibt auch in der Kulturindustrie gute Designer und - wir lassen
jetzt den Wasserkessel hinter uns - gute Journalistinnen, Journalisten,
die nach Wahrheit suchen; Autorinnen, Autoren und Regisseurinnen, Regisseure,
die gute Filme und Fernsehserien machen und sich intelligente Gedanken über
die Welt machen. Es gibt auch Entertainerinnen, Entertainer, die fantastische
Shows machen und Bestseller-Autorinnen, Bestseller-Autoren, die gute
Romane schreiben. Ihnen muss eine Ästhetik der Kulturindustrie gerecht
werden.
Klar, wünschenswert sind mehr freie Produktionsbedingungen, freie
Märkte, journalistische, entertainerische, künstlerische Freiheiten,
mehr unabhängige, in voller journalistischer, entertainerischer,
künstlerischer Autonomie hergestellte Produkte. Es gibt sie, vor
allem in den Nischen des Betriebs. Aber es geht nicht, dass man, wie
das oft geschieht, ohne genau hinzusehen die Mainstream-Produkte als
böse und banal beschimpft und die unabhängigen Nicht-Mainstream-Produkte
als gut und edel.
Hymnische Wissenschaft / Kritische Wissenschaft
Es gibt in Filmen oder Theaterstücken diesen Gag, dass jemand mit
der Schulter nach vorn auf eine geschlossene Tür zurennt, um sie
zu sprengen, doch die Tür wird genau in dem Moment von innen geöffnet.
Heute renne ich mit meinen Argumenten Türen ein, die sich im Moment
des Einrennens von selbst öffnen. Heute erscheinen Bücher mit
Titeln wie Lob des Mainstreams oder Die Schönheiten des Populären, mit der Absicht, alles, was sich gut verkauft, von vornherein als Spiegel
der Publikumsbedürfnisse und als 'gut' anzusehen. (Hügel 2007,
Maase 2008) Aber ich renne da in einen Festsaal, in dem Panegyriker ihre
Hymnen auf den Mainstream singen und auf die 'Populäre Kultur',
mit großen 'P'.
Dort will ich aber nicht hin.
In diesem Festsaal der Panegyriker hält sich der Kulturwissenschaftler
Kaspar Maase auf, der die 'Schönheiten des Populären' lobt.
Er setzt 'ästhetische Erfahrung' mit der Empfindung von irgendwie
schönen Gefühlen gleich.
(Maase sieht sich in der Tradition von Gustav Theodor Fechners empirischer
'Ästhetik von unten'. Fechner interessierte sich, vor mehr als hundert
Jahren, 'wertfrei' dafür, was gefällt und was missfällt,
und er versuchte dies empirisch-experimentell zu erforschen, was den
Leuten Lustgewinn und was Unlustgewinn einbringt. Er legte Versuchspersonen
Kreise und Vierecke vor. Ergebnis: Vierecke gefallen weniger. Er fand
auch heraus, dass seinen Versuchspersonen der Goldene Schnitt gefiel.
s. Fechner 1876, I: 190f.)
Maase meint, in der äshetischen Erfahrung des 'Populären' würden "positive
Gefühle" gesucht: In Konzerten, auch in klassischen, habe man
oft, wenn man bei der Musik seinen Assoziationen folgt, "eine hoch
befriedigende, ja beglückende Erfahrung", "Vergnügen",
und er spricht von "beglückenden, bewegenden oder schlicht
angenehmen Erfahrungen mit Popsongs und schicker Kleidung, mit Liebesgeschichten
und Fantasywelten" und von "Wohlbehagen". (2008: 44ff.,
50)
Gut, die Leute können sich bei allem Möglichen beglückt
fühlen. Das sollen sie auch tun. Sie können auch von sich selbst
sagen, sie hätten 'positive Gefühle'. Schön für sie!
Sollen sie doch 'ihre Seele baumeln' lassen! - Aber es ist eben positivistisch,
wenn ein Wissenschaftler positive Gefühle 'positiv' nennt, also
selbst gut findet. Von ihm muss man verlangen, dass er genauer beobachtet,
was da real stattfindet! (Wir werden das im Teil 'Vertraut / Unvertraut'
tun.) Wer als Wissenschaftler genau beobachtet, wird Widersprüche
feststellen, Antagonismen, Konflikte, und der eigene Wunsch, die Welt
positiv zu sehen, wird ihm im Hals stecken bleiben.
Wenn Menschen angesichts schlechter
Produkte 'positive Gefühle'
empfinden, fehlt ihnen entweder Wissen oder Intelligenz. Dann ist auch
die 'ästhetische Erfahrung', die sie machen, eine dumme ästhetische
Erfahrung.
In Maases Buch über die 'Schönheiten des Populären' schwärmt
auch der Medienwissenschaftler Knut Hicketier vom "Wellness-Angebot
für Auge und Ohr". (2008: 108) In Volksmusik-Sendungen sieht
er ein "Wohlfühlangebot", und Medienrezeption bewirkt,
so sagt er, "Zustände des glückhaften Erlebens".
(A.a.O.: 109) Hicketier schließt seine Hymne so: "Die ästhetischen
Ideale des Mainstreamfilms und des populären Fernsehens bilden -
unabhängig vom Kunstverständnis der kulturellen Eliten - das
Prinzip des Schönen für die Gegenwart. - Kurz gesagt: Die populären
Medien definieren heute das Schönheitsideal. - Ja, wer denn sonst?" (A.a.O.:
113)
Schön!
Im Festsaal der Panegyriker singt auch der Medienwissenschaftler Hans-Otto
Hügel sein 'Lob des Mainstreams'. Er fordert Offenheit und Respekt
vor den Künstlern und dem Publikum des Mainstream (den er pauschal
als 'Populäre Kultur' mit großen 'P' definiert): "Den
Mainstream zu loben, entspricht dieser Haltung des Respekts. Nur das
positive Vorurteil, das wir dem Mainstream entgegenbringen, zeigt uns
seine Schönheit und seine Wahrheit und macht uns fähig, sich
von ihm etwas sagen zu lassen." (2007: 10)
Aber was soll man von Wissenschaftlern halten, die stolz darauf sind,
dass sie einer Sache ein 'positives Vorurteil' entgegenbringen, also
sich dazu bekennen, Vorurteile zu haben? Und wieso kann man Schönheit
und Wahrheit nur erfassen, wenn man 'positive Vorurteile' hat? Wie kann
man jene erfassen, wenn einem 'positive Vorurteile' den Blick auf Hässlichkeit
und Lüge verbauen? (Und: Ist man als Wissenschaftler, der als Wissenschaftler
Vorurteile bekämpfen muss, nicht immer schon negativ?)
Also: Die Tür zu diesem Festsaal der Wellness-Apostel wollen wir
gar nicht einrennen.
Wir wollen eine Ästhetik des kulturindustriellen Mainstreams, aber
keine apologetische, sondern eine kritische! Zwar halten wir die Kulturindustrie
nicht von vornherein für das absolut Falsche, Schlechte, Hässliche
- insofern wollen wir auch keine "Ästhetik des Hässlichen" (Rosenkranz
1835) und wir folgen auch nicht denen, die heute von der "ubiquitären
Häßlichkeit der Medienwelt" sprechen. (Schwering und
Zelle 2001: 9) Wir halten die Kulturindustrie aber auch nicht für
eine Wellness-Oase. Wir kritisieren sie. Wir wollen Falsches, Schlechtes,
Hässliches benennen.
Unsere Kritik ist nicht 'elitär', 'von oben'. Das haben wir gar
nicht nötig, denn Kritik ist etwas, was mitten in der Kulturindustrie
selbst stattfindet. Man braucht nur genau hinzusehen. Nirgendwo finden
so viele Auseinandersetzungen der Individuen, der Journalisten, Entertainer,
Drehbuchautoren, Ausstatter, Regisseure, Bestseller-Autoren etc. mit
dem durch Macht- und Profitinteressen Vorgegebenen, Standardisierten
statt wie in der Kulturindustrie selbst. Hier gibt es Widersprüche,
Antagonismen, Kompromisse, und erst wenn man jene beachtet, wird man
dem Mainstream, den Schönheiten und Hässlichkeiten des 'Populären'
gerecht.
Schlechte Kulturkritik / Kritische Wissenschaft
Wir wollen eine kritische
Wissenschaft - aber es gibt auch da einen anderen Festsaal, den ich
nicht betreten möchte: den Festsaal der
Kulturmenschen. Dessen Tür muss man nicht einrennen, sie steht weit
offen und aus dem Saal ertönen laute Rufe: 'Banale Kulturindustrie!'
'Profitorientierung!', 'Warencharakter!', 'Kolonisierung der Lebenswelt!'
'Bunte Bilder!'. Die Leute, die in diesem Festsaal singen, sind stolz
darauf, dass sie zu Hause keinen Fernseher haben. Oder dass sie, wenn
sie einen haben, ihren Kindern das Fernsehen verbieten. Bestseller sind
für sie kulturlos. Entsprechend sieht dieser Festsaal aus: wie die
bayerische Walhalla, mit vielen Büsten edler Kulturträger..
Auch in diesen Festsaal der Kulturmenschen möchte ich nicht hinein.
Ich möchte in einen anderen Saal. Die Tür zu diesem Saal steht
nicht offen, und es ist dahinter kein Festsaal zu erwarten, sondern eher
eine große Halle mit einem Labor, das aussieht wie in den Science
Fiction-Filmen, mit kochenden verschiedenfarbenen Flüssigkeiten
in rauchenden Glaskolben, mit elektrischen Versuchsanordnungen, aus denen
gewaltige Blitze schlagen. Überall stehen Computer, die einen Zugang
zu Bibliotheken und Medien-Archiven der Welt bieten. Die Anwesenden experimentieren
nicht nur im Labor, sie debattieren auch und bilden das, was man einen
'Thinktank' nennt. In dieser Halle werden theoretische Kategorien auf
ihre empirische und analytische Tauglichkeit als Modelle getestet und
durchdacht, als Modelle der Bestimmung der Qualität bzw. Nicht-Qualität
von Medienprodukten.
Die Tür zu dieser Halle der gut beobachtenden, gut analysierenden
Kritiker wollen wir öffnen.
Kategorien und die Sachen selbst
Wir suchen analytische Kategorien,
mittels derer wir Modelle bauen wollen, die uns etwas über gute und schlechte Qualitäten
von kulturindustriellen Produkten auszusagen helfen.
Deshalb ist dies keines dieser Überblicks-Bücher, in die der
Autor alles hineingepackt hat, was er laut bürokratisiertem Lehrplan
als Modul zu betreuen hat. Es geht mir auch nicht darum Konversation
zu machen. Sätze wie 'Das Groteske nistet in den Rissen und Frakturen
der Ordnung' wird man bei mir nicht finden. Oder: 'Bei Kafka erfährt
man, wie unmenschlich die menschliche Zivilisation ist.' Auch von der
'warenproduzierenden Gesellschaft mit ihren gleichförmigen Unterhaltungsangeboten'
werde ich nicht reden. (Und Wörter wie 'ausbuchstabieren' verwende
ich nicht, wir sind ja keine Erstklässler.)
Wir suchen Kategorien - das bedeutet: Ich werde mich bemühen, nur
das zu sagen, was der Präsentation und Erklärung analytischer
Modelle dient (was keineswegs langweilig sein muss). Es wird dabei um
die Gestaltungs-Ebenen der Medienprodukte gehen; um die Gegensätze
von Kreativem und Unkreativem; um die lebendige Struktur der Waren; um
die Fantasiearbeit des Publikums und die Fantasiearbeit in den Medienprodukten;
um die in den Medienprodukten enthaltenen Strukturen der Erfahrung. Die
Modelle sind nicht neu, ich habe sie teils von Anderen übernommen,
teils selbst bereits publiziert. Neu ist hier, dass wir diese Modelle
auf ihre ästhetischen Aspekte hin untersuchen.
Diese Modelle werden nicht nur 'theoretische', sondern auch eine Darstellung
empirischer Strukturen sein. Kategorien und Modelle müssen zwar
logisch durchdacht und intersubjektiv nachvollziehbar sein - sie müssen
aber auch den empirisch erfahrenen Sachen gerecht werden. Adorno sagte
das so: "Es ist ein Unterschied [...], ob nun die Gesetze der formalen
Logik und der Methode als Ordnungsschemata dem Erfahrenen aufgeprägt
werden oder ob ihre Geltung, ihre Anwendbarkeit dauernd konfrontiert
wird mit dem, was die Sachen selbst sagen." ([1964b] 2008: 169)
Man muss die "sachhaltigen Dinge" (ebd.) selbst sprechen lassen.
Deshalb wird es in diesem Buch auch beobachtende, essayistische Stücke
oder Kapitel über Mainstream-Produktstrukturen geben, in denen wir
unabhängig von allen Modellen und Kategorien sehen wollen, was uns
die Sachen, die Produkte, selbst sagen. In diesen Stücken werden
wir uns bemühen, gut zu beobachten. Wir werden sehen, dass sich
in den realen Produkten das Wahre und das Unwahre, Gute und Schlechte,
Schöne und Unschöne stets vermischen, und wir werden überprüfen
müssen, ob unsere Modelle (und überhaupt unsere Aussagen) dieser
realen Vermischung des Gegensätzlichen, Widersprüchlichen,
Antagonistischen angemessen sind.
* * *
Dialog über Positionierungen
KONTRAHENT "Sie wollen ernsthaft eine Ästhetik
der Produkte?"
AUTOR "Ja."
KONTRAHENT "Heutzutage?"
AUTOR "Ja. Und?"
KONTRAHENT "Wissen Sie denn nicht, dass es in der neuen Ästhetik
schon in den 1970er/1980er Jahren - anschlussfähig an den linguistic
turn - eine rezeptionsästhetische Wende gegeben hat? Eine Wende
von der Werkästhetik zur Erfahrungsästhetik! Vom Autor zum
Leser! Zum leiblichen Spüren! Wir haben uns längst von der
Kunstkallistik wegbewegt! Weg von Hegel und zurück zu Baumgarten
und Kant! Hin zur sinnlichen Wahrnehmung! Weg von Dialektik und Soziologie,
hin zu Phänomenologie und Anthropologie und Evolutionsbiologie,
hin zu den Erscheinungen und zu den neuronalen Vorgängen! Wir haben
einen neuen Raum aufgespannt!"
AUTOR "Nur weil ich mich für die Qualität von kulturindustriellen
Produkten interessiere, regen Sie sich so auf? Jeder Konsument will wissen,
ob etwas gut ist oder schlecht."
KONTRAHENT "Sie vertreten die dogmatische Position einer Produktionsästhetik!"
AUTOR "Ich interessiere mich für die Produkte und deren Qualität.
Jeder Konsument tut das."
KONTRAHENT "Das ist obsolet und nicht anschlussfähig! Das ist
die alte Frankfurter Schule, eine elitäre Autonomieästhetik
Frankfurter Provenienz!"
AUTOR "Adorno debattierte 1967 mit dem Kölner Musiksoziologen
Alphons Silbermann. Silbermann wollte, dass sich die Soziologie ausschließlich
der musikalischen Erfahrung widmen soll. Adorno beharrte auf objektiven
Qualitäten der musikalischen Werke und auf dem gesellschaftlichen
Gesamtzusammenhang musikalischer Produktion."
KONTRAHENT "Das ist heute allenfalls noch von historischem Interesse."
AUTOR "Kunst wie Kulturindustrie muss man auch heute auf den Ebenen
der Produktion, der Produktstruktur und der Konsumtion analysieren -
und auf allen diesen Ebenen muss man sowohl die Sinne und die Gefühle
als auch den Verstand beachten."
KONTRAHENT "Ihre Sicht ist vollkommen out of step! Man interessiert
sich heute mit Baumgarten für das sinnliche Empfinden und mit Bohrer
für das Plötzliche des Empfindens! Wir positionieren uns mit
einer Ästhetik des Leibes und nicht des Geistes!"
AUTOR "Ich betrachte Wissenschaft nicht als Spielfeld für 'Positionierungen'.
Ich will eine Analyse, die den Sachen gerecht wird. Ich will eine Ästhetik
der Sachen."
KONTRAHENT "Das ist nicht mehr zeitgemäß. Heute will
man Sinnsuggestionen dekonstruieren! Bedeutungen verweigern! Deshalb
halten wir den Leib für wichtiger als den Geist; den empfindenden
Menschen - genauer gesagt: dessen Hirnströme - für wichtiger
als das Objekt; die Reaktion auf das Werk für wichtiger als das
Werk. Wir sagen auch nicht mehr 'Werk', sondern wir fassen das, was man
früher 'Werke' nannte, heute als polyseme, fluide Hybridkonstruktionen
auf. Das ist unser Konsens unserer Scientific communities."
AUTOR "Statt sich pragmatistisch auf einen Konsens von universitären
Seilmannschaften zu berufen, sollten Sie besser auf Argumente eingehen."
KONTRAHENT "Argumentieren, das ist achtzehntes Jahrhundert. Heute
positioniert man sich! Mit Rezeptionsästhetik und Wahrnehmungsästhetik!
Wir haben das sinnlich empfindende Subjekt in den Mittelpunkt gestellt!
Wichtig sind die Sinne! Das leibliche Spüren! Das plötzliche
Empfinden!"
AUTOR "Ohne Verstand?"
* * *
Fortsetzung
Es ist an der Zeit, ein Beispiel
zu bringen, und das tun wir im nächsten
Stück.
Was
zum Beispiel am Frühstücksfernsehen 'ästhetisch'
ist
'Ästhetische' Probleme gibt es überall in der Kulturindustrie.
(Und wir untersuchen 'ästhetische Probleme' nicht an den Erfahrungen
und Wellness-Gefühlen, sondern an den Produkten.)
Ein Beispiel: Wenn im Frühstücksfernsehen Moderatorinnen und
Moderatoren auftreten, die penetrant munter, dynamisch und immer lustig
sind, ist diese Aufgedrehtheit nicht natürlicherweise da (selbst
wenn es die professionelle Leistung der Moderatoren ist, sie als natürlicherweise
da seiend darzustellen), sondern das ist
1. ein Schauspielstil, nach dessen Angemessenheit man fragen muss. Es
gibt gute und schlechte Moderatoren-Schauspielstile. Man muss authentisch-wahrhaftige,
glaubwürdige von pseudo-dynamischen unterscheiden. Man muss sich
fragen, ob diese überdrehte Lustigkeit gut oder schlecht ist; ob
diese in die Dynamik gehetzten, permanent krampfhaft lächelnden
Leute wirklich angemessen sind. (Womit ich nicht verlange, dass sie sich
wie Oberlehrer benehmen sollen.)
2. Die penetrant munteren, dynamischen und immer lustigen Moderatorinnen
und Moderatoren sind auch ein gesellschaftlicher Tatbestand, nach dessen
Sinn und Nutzen man fragen muss.
In einem dieser Morgenmagazine tritt zum Beispiel regelmäßig
eine witzige, schlaue Society-Expertin auf, und mit ihr erörtern
die lustigen Moderatorinnen und Moderatoren den neuesten Klatsch und
Tratsch über Prominente. Die Society-Expertin ist witzig und schlau,
weil sie das Business kennt und durchschaut und somit erklären kann,
was manche Prominente so alles anstellen, um Aufmerksamkeit zu erregen
und im Gespräch zu bleiben. Sie wird ernst, wenn es um Exzesse geht,
wenn zum Beispiel eine Schauspielerin in der Öffentlichkeit mit
ihrer Bulimie hausieren geht, nur um im Gespräch zu bleiben. Die
witzige Society-Expertin wird ernst - und sofort wird sie vom hektisch-lustigen
Moderator abgewürgt. Sie wird überhaupt immer abgewürgt,
wenn sie uns das Business näher erklären will. - Und da stellt
sich die Frage, ob nicht Moderatorinnen und Moderatoren nützlicher
wären, die an den Sachen ernsthaft interessiert sind (was ja Witz
nicht ausschließen muss).
Für 'Ästhetik' ist also ein Morgenmagazin ein Forschungsobjekt,
denn es geht um die Angemessenheit von Schauspielstilen und von Genres
bzw. Formaten.
Und wenn die Leute in diesen Morgenmagazinen populistisch in Freizeitkleidung
zwischen Brötchenkörbchen, Marmeladengläsern, Steingut-Kaffeetassen
und schauderhaftem Tischdekorations-Schrott hocken, muss Ästhetik
auch die Frage stellen, warum das scheußlich ist.
Wenn man die Rolle des Moderators
inszeniert, gibt es eine notwendige Aufgedrehtheit und eine überzogene. Als Fernsehjournalist (der ich
in den 1980er Jahren war) hatte ich gelernt, dass man, wenn man im Fernsehbild
als normal Sprechender erscheinen will, ziemlich aufgedreht sprechen
muss. Würde man vor der Kamera normal sprechen, würde man dröge
und unprofessionell wirken. Es gibt also eine notwendige Aufgedrehtheit,
die Kamera verlangt eine gewisse Dynamik beim Sprechen. Das muss man
unterscheiden von dieser überdrehten Munterkeit und Lustigkeit,
die die Morgenmagazin-Moderatoren inszenieren.
Zugleich muss man sich vor der Kamera, wenn man nicht unbeholfen wirken
will, sehr knapp, sparsam, stilisiert in seiner Gestik und Bewegung verhalten.
Man darf nicht mit den Händen herumfuchteln. Man darf auch nicht
zuviel mit dem Kopf wackeln und auch nicht mit dem Ellbogen. Als Anfänger
wackelte ich immer mit dem Ellbogen, der macht einfach was er will. Man
achte einmal auf die Hände (und die Ellenbogen) auch dieser überdrehten
Morgen-Moderatoren, und man wird sehen, wie körperlich beherrscht
sie trotz aller verbalen und mimischen Überdrehtheit sind.
Das alles muss man lernen, das sind Schauspielstile. Auch Politiker lernen
in Kursen kameragerechtes Auftreten, und auch das sind Schauspielstile.
Es gibt da gute und schlechte, angemessene und unangemessene Schauspielstile
- und das nötigt zu ästhetischer Theorie.
Also: Mit Ästhetik der Kulturindustrie muss man sich befassen,
wenn man klären möchte, warum eine Gestaltungsweise (wie gesagt:
Form und Inhalt) Qualität hat, eine andere dagegen nicht. Wir untersuchen
die Ästhetik der Kulturindustrie im Spannungsfeld von gelungenen
und nicht gelungenen Mainstream-Produkten.
Da ich viel mit Beispielen
arbeiten werde, muss ich hier eine Bemerkung machen. Beispiele sind
Konkretisierungen. Damit handelt man sich das
Problem ein, dass immer jemand sagen kann: 'Aber meine Tante hat eine
Freundin, und bei deren Enkelin ist alles ganz anders.' Das Problem hat
man selbst bei der Darstellung von empirischen Ergebnissen, selbst wenn
jene noch so repräsentativ sind und methodisch einwandfrei erbracht
wurden. Ein schlauer Mensch hat bemerkt, dass man jeder Statistik mühelos
den Boden entziehen könne, man brauche nur zu sagen: 'Aber im Süden
ist alles ganz anders.' Das gilt auch für Beispiele, und deren Entwertung
verhindert man nur, wenn man die Beispiele so gut wählt, dass man
exemplarische Beispiele wählt, dass also aus Konkretisierungen Modelle werden. Wir versuchen das.
Jetzt wollen wir uns kurz
mit der Frage befassen, warum es heute ein Interesse an einer 'Ästhetik' der Waren, an der 'Schönheit
des Populären' und des 'Mainstreams' gibt, das entsteht ja nicht
in luftleerem Raum als voluntaristischer Akt.
'Ästhetisierung':
heute ein Interesse im kulturindustriellen Machtkomplex
Es gibt eine Art von Gestaltung,
die man, in kritischer Absicht, 'Ästhetisierung'
nennt: verschönernde, beschönigende Inszenierungen, die an
Gefühle und Stimmungen appellieren. Sie haben heute Konjunktur.
Waren werden in diesem Sinn ästhetisiert - also 'schön' gemacht
-, und auch Wahlkämpfe und Kriege werden ästhetisiert. Alltag
wird ästhetisiert, und die Leute wünschen sich unablässig
'einen schönen Tag noch'. Wenn so viel Schönes in der Welt
ist, dann kann man entweder daran glauben, dass wir in der besten aller
Welten leben - oder wenn man nicht so gutgläubig ist, muss man vermuten,
dass da etwas nicht stimmt; dass das 'Ästhetische' für Anderes
instrumentalisiert wird. Dann muss man hinter die Kulissen blicken.
Hinter den Kulissen findet man keine 'Verschwörungen' - wir sind
keine Verschwörungstheoretiker! -, sondern die Interessenlagen des
kulturellen Machtkomplexes: Konzerne wollen auf oligopolistischen Märkten,
auf denen es kaum Preiskonkurrenz gibt, Dinge verkaufen, die überteuert
sind und oft auch schlechte Qualität haben, aber Qualität vortäuschen,
mittels Design, Verpackung, Werbung.
(Diese Argumentation kann man leicht mit dem 'Aber im Süden ist
alles ganz anders'-Argument umstoßen, indem man darauf hinweist,
dass auch Mercedes Werbespots macht, und wer wollte denn die Qualität
eines Mercedes-Autos bezweifeln! Aber das ändert nichts an der Tatsache,
dass mittels Design, Verpackung, Werbung oft überteuerte und minderwertige
Waren verkauft werden sollen. Ich denke da an Werbespots für Tütensuppen,
Fruchtjoghurts, Tiefkühlpizza etc.)
Die politischen Parteien wollen für Politiken gewählt werden,
die das Leben der Bevölkerungsmehrheit nicht verbessern, aber mittels
PR und 'Symbolpolitik' verkauft werden sollen. Konzerne und Parteien
versuchen, ihre minderwertigen Waren zu einer Gefühlsangelegenheit,
einer des 'Lebensstils' ('Lifestyle') zu machen, indem sie sie irgendwie
'schön machen'. Die Welt soll zum Roman, sie soll roman-tisiert
werden.
Die Romantisierung der Welt hat also politisch-ökonomische Ursachen.
Nochmals: Minderwertige und überteuerte Waren sollen auf von Oligopolisten
beherrschten, dadurch uniformen und damit langweiligen, zudem bereits
gesättigten Märkten verkauft werden. Minderwertige Politik
soll gegen den Trend zur Volatilität oder Wahlenthaltung verkauft
werden. Kriege um Öl, Pipelines und Hegemonie sollen beschönigt
werden. Und Menschen, die sich ständig Schönes wünschen,
tun das mit verdächtiger Zwanghaftigkeit. Es ist notwendig, diese Ästhetisierung
der Welt zu entlarven.
Eine weitere Frage, die in
dieser Einleitung kurz angesprochen werden muss, ist die nach den Maßstäben, die man zur Beurteilung
von Qualitäten und Nicht-Qualitäten anlegen könnte und
sollte, und darum geht es, so kurz wie möglich, in den nächsten
Stücken.
Ästhetische Maßstäbe:
ontologische und handwerkliche
Bevor im frühen 18. Jahrhundert die 'Ästhetik' entstand, hatte
es keine 'ästhetischen' Maßstäbe zur Beurteilung von
Produktqualitäten gegeben, sondern ontologische und handwerkliche.
Ontologische Maßstäbe: In Antike und Mittelalter sollte 'das
Sein' bzw. das Göttliche in den Werken erscheinen, bzw. wurde hiermit
die Propaganda für die Repräsentanz der Herrscher und für
die kirchlichen Dogmen platonistisch und neoplatonistisch legitimiert.
Das waren keine 'ästhetischen' Maßstäbe. (Wir kommen
darauf im Teil 'Schön / Hässlich' zurück.)
Handwerkliche Maßstäbe: Die Künstler der Renaissance
zeichneten mit Hilfsmitteln, die das, was sie sahen, in Felder aufteilten;
Körperhaltungen wurden von menschlichen Modellen gestellt; Hilfskräfte
vergrößerten die Zeichnungen auf große Kartons; die
Zeichnungen wurden gelöchert; dann wurde das auf die Wand übertragen,
und so entstanden Fresken. Man wollte eine naturgetreue und zugleich
ideale Abbildung. 'Ästhetisch' war daran, verborgen im Interesse
an handwerklicher Perfektion, das Interesse am - idealtypischen - Abbild
des Realen, realer Körper etc. oder das Interesse an einer ungewöhnlichen,
neuen Auswahl der Sujets, der Körperhaltungen, Gestiken etc.
Dann, im 17. Jahrhundert,
legten sich die Fürsten 'Kunstkammern'
zu: Sammlungen von Porzellan, optischen Instrumenten, Gemälden,
Statuen, Kuriositäten. Die Höflinge an diesen absolutistischen,
despotischen Höfen taten gut daran, gegenüber Gemälden
oder Statuen, mit denen sich die Fürsten schmückten, 'entzückte
Fassungslosigkeit' zu heucheln, denn Qualitätsurteile, die dem Despoten
widersprochen hätten, wären folgenreich gewesen, also sagten
die Höflinge lieber: 'Je ne sais quoi', 'Ich weiß nicht was
es ist'. (s. Ullrich 2005: 9ff.) Im Klartext: 'Euer Gnaden, ich weiß nicht,
was mich an dem von Eurer Großartigkeit angekauften faszinierenden
Werk so ungeheuer fasziniert.' Die Untertanen taten so, als seien ihre
Sinne von der 'Kunst', die der allmächtige Herr auswählte,
total verwirrt. Die Formel 'Je ne sais quoi', diese Dramatisierung des
Erstaunens und verstandlosen Empfindens, diese höfische Lobhudelei,
diente der Irrationalisierung von Kunst. und das war der Kern der später,
im frühen 18. Jahrhundert entstehenden 'Ästhetik' als Wissenschaft
von der 'verworrenen' Empfindung der Sinne.
Allerdings wollte im frühen 18. Jahrhundert Baumgarten, der als
erster den Begriff 'Ästhetik' prägte und jene als Theorie der
'sinnlichen Erkenntnis' definierte, sich nicht nur auf die sinnlichen
Wahrnehmungen konzentrieren. Er vertrat zugleich auch die alten ontologischen
Maßstäbe: Er wollte die empfindsame Seele 'das Schöne'
an sich schauen lassen. (Wir sehen uns das im Teil 'Sensorisch / Logisch'
ausführlich an.)
Auch Winckelmann schwärmte Mitte des 18. Jahrhunderts von den 'schönen
Seelen' und von der 'edlen Einfalt und stille Größe' der griechischen
Plastiken - wie edel der Laokoon doch stirbt! -, und er verachtete 'gemeine
und halbgeformte Seelen', die das Edle und Stille zu sehen nicht in der
Lage waren.
Im späten 18. Jahrhundert wollten die Romantiker die 'Ästhetisierung'
der durch Aufklärung und Industrialisierung entzauberten Welt. Sie
schwärmten von der 'Aura' der Kunstwerke. Die Romantiker wollten
die 'Wiederverzauberung' der Welt, so (angeblich) schön wie im Mittelalter
und auch, wie im Mittelalter, in ontologischer Absicht. Schelling, Schlegel,
Novalis, wollten im frühen 19. Jahrhundert mittels Kunst und Philosophie
(und schließlich der Religion) 'das Absolute' erschauen. (s. Heine
1834) Aber auch der Anti-Romantiker Hegel sah in der Kunst das 'Scheinen
der Idee' und wandte sich der Kunst der Griechen zu.
Auch die Künstler der Moderne, die im späten 19. und im 20.
Jahrhundert die 'reinen Formen', Urformen oder sonstwie das 'Reine' suchten,
hatten keine ästhetischen Maßstäbe, sondern ontologische.
Cézanne malte die Äpfel besonders kugelig (aber nicht realistisch)
und behauptete, dass sich im kugeligen Apfel die 'Seele des Objekts',
ihr 'Apfelsein' offenbare. Seit dem Kubismus gesellten sich 'Theoretiker'
dazu, die diese 'Suche nach Reinheit' metaphysisch überhöhten.
(s. Wolfe 1992) Auch bei den Architekten des Bauhaus ging es um 'das
Wesen', auch hier wurde das Formale ontologisch, nicht ästhetisch
begründet. Sie glaubten, das reine 'Sein' zeige sich in der Geometrie
- und im Kubus. (s. Wolfe 1993) Und sie behaupteten, die Proletarier
bräuchten in ihren Wohnungen, die Angestellten in den Hochhaus-Kästen,
nichts als das Schlichte, Funktionale.
All das muss in die ästhetische Theorie der Kulturindustrie einbezogen
werden.
Allerdings unterscheiden sich
Medienprodukte von 'Kunst' in Einem: In Medienprodukten können keine 'reinen' Formen oder 'reinen' Handlungen
(Performances, Acts) inszeniert werden. Das 'Geistige' kann sich in den
Medienprodukten nicht selbst als 'rein Geistiges' zelebrieren, wie das
in der 'Kunst' der Fall ist (selbst wenn auch die Kunst hierfür
eines Materiellen bedarf, und sei es einer leeren Leinwand oder Wand
oder des 'Acts' einer Performance). In Medienprodukten muss etwas - ein
Etwas! ein Seiendes! - dargestellt werden. Aber hierbei praktizieren
auch die Medien die Kunst der Inszenierung. Jene kann gut oder schlecht
gemacht werden. Dafür interessieren wir uns, in kritischer Absicht.
Rein handwerkliche Maßstäbe reichen uns nicht aus, dies soll
ja kein Handbuch für Praktiker sein. Wir wollen auch keine fundamental-ontologischen
Maßstäbe anlegen. Unsere ästhetischen Maßstäbe
müssen sowohl aus den Sachen selbst als auch von außerhalb
der Sachen kommen.
Maßstäbe
in den Sachen
Nehmen wir jetzt das Beispiel
einer Nachmittags-Talkshow. Wenn man sie kritisiert, muss man sie immanent
kritisieren. Man kann nicht von außen
her sachfremde Maßstäbe anlegen. Eine Nachmittags-Talkshow
ist keine wissenschaftliche Aufklärung und keine seriöse Therapie.
Sie ist eine Form von Debatte, oft eine drastische, ordinäre. Zu
diesem Format gehört es, dass überspitzt typisierte 'Characters'
auftreten; dass polarisiert wird; dass schräge 'Antitypen' auftreten;
dass herumgeschrien wird etc.
Manchmal sind aber Talkshows, z.B. die Oprah Winfrey-Show, sachlich und
thematisch gut recherchiert. Es gibt da Qualitätsunterschiede. Aber
immer gilt: Die Qualität einer Nachmittags-Talkshow muss am Format
der Nachmittags-Talkshow gemessen werden.
'In den Sachen' müssen wir analysieren, weil es nicht reicht, einem
analysierten 'Schlechten' von außen her abstrakt ein idealisiertes
'Gutes', ein absolut 'Schönes' entgegen zu setzen. Man kann eine
Nachmittags-Talkshow nicht von außen her am Maßstab eines
rationalen, beratschlagenden Diskurses messen. Man muss im Format bleiben.
Was man von außen her für 'schlecht' befindet, hat 'in den
Sachen' seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, in denen es auch
Qualitäten gibt.
Maßstäbe außerhalb
der Sachen
'Von außerhalb der Sachen'
muss man analysieren, weil man die Sachen nicht als naturgegeben ansehen
kann.
Man muss von außen her untersuchen, wie das Format der Nachmittags-Talkshow
entstanden ist, welchen Interessen es dient; welche Grenzen das Format
setzt und was es ausschließt; wie konkurrierende Sender sich mit
dem Format oder mit Abwandlungen des Formats profilieren; wie groß der
Etat ist, der zur Verfügung steht und ob gute Recherchen möglich
sind; und welche ähnlichen Produkte es in der Mediengeschichte gegeben
hat und heute gibt.
Und wenn man 'Schlechtes' zu kritisieren hat, muss man untersuchen, warum
das 'Schlechte' da ist und das 'Gute' nicht. Analysen von Produkstrukturen
können schnell naiv werden, wenn sie nicht durch Analysen der sie
umgebenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen ergänzt
werden. Naiv darin, dass sie die zum absoluten Übel erklärte
empirische Sache ahistorisch (d.h. ohne viel Wissen über die Sache)
einem draußen irgendwo umherschwebenden Guten, Schönen konfrontieren.
Unglaubwürdigkeit / Glaubwürdigkeit
Man kann auch nicht von allen
Genres oder Formaten Wahrhaftigkeit einfordern, denn zu manchen gehört
es, dass sie unwahrhaftig sind.
Werbung zum Beispiel ist das
Gegenteil aller wahrhaftigen Information, Werbung informiert nicht,
und deshalb wird Werbung für unglaubwürdig
gehalten. Von Werbung erwartet man schöne Bilder und Szenen, witzige
Gags, gutes Design. Wenn aber Werbung im Fernsehen mit dem Satz angekündigt
würde: 'Und jetzt folgt Verbraucherinformation', nähme das
niemand ernst. (Werbung ist allerdings verpflichtet, keine Falschinformationen
zu verbreiten. Wo sie das tut, hat das rechtliche Konsequenzen.)
Deshalb kann man an Werbespots auch nicht den Maßstab einer seriösen
Verbraucherinformation anlegen. Zwar kann man an Werbespots Qualitätsfragen
stellen: 'Von innen' kann man gut und witzig gemachte Bilder und Szenen
von schlecht gemachten unterscheiden. 'Von außen' kann man die
Verlogenheit der Szenen von Familienharmonie oder der Szenen des 'Genusses'
thematisieren. Aber wenn man über die Analyse dieser Unwahrhaftigkeit
hinausgehen und Werbung ernsthaft mit dem Maßstab seriöser
Verbraucherinformation messen würde, wäre das moralisch korrekt,
aber lächerlich.
Andere Genres oder Formate
sind zu Wahrhaftigkeit verpflichtet: Features, Reportagen, Dokumentationen,
Hintergrund-Magazine und Hintergrund-Nachrichtensendungen.
Es gibt sie (am ehesten noch) im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Die Nachrichtensendungen in ARD und ZDF informieren journalistisch seriös,
und deshalb werden sie in der Bevölkerung für glaubwürdig
gehalten.
Die News-Shows kommerzieller Sender werden für weniger seriös
und glaubwürdig gehalten. Kommerzielle Sender machen aus Nachrichten
eine Show. Sie montieren die von den News-Agenturen kommenden Bilder
zu kleinen Actionfilmen zusammen, sie zeigen bei Kriegen, Attentaten
und Katastrophen in Nahaufnahme die Leichen und die weinenden Angehörigen
etc.
Ü
berhaupt arbeiten kommerzielle Sender daran, viele Formate, die man eigentlich
für glaubwürdig, weil wahrhaftig hielt, kaputt zu machen (zu
'dekonstruieren'). Aus ernsthaften Talkshows machen sie Kampf-Arenen
für monströse Personen und private Dramen.
Zum Beispiel machen sie aus
pädagogischer Familienberatung Shows über
schreiende Mütter und gewalttätige Kinder und die Super Nanny,
die wie ein Sheriff dahermarschiert und für Law and Order sorgt.
In Super Nanny von RTL wird ein ernstes Thema - gewalttätige Kinder
und Jugendliche in den Familien - mit den Mitteln einer Jahrmarktbuden-Attraktions-Show
behandelt: Zuerst wird eine Sammlung von Gewaltszenen gezeigt - die Mutter
schreit, die Kinder hauen auf die Mutter ein -, bei denen man den Eindruck
hat (jedenfalls ich habe den Eindruck), dass der Regisseur oder der Kameramann
der herumschreienden Mutter und den gewalttätigen Kindern sagte:
'Jetzt macht mal schön.' / Dann marschiert 'die Super-Nanny' herbei
wie im Western der Sheriff und verspricht, 'Ordnung zu schaffen'. / Dann
entfaltet die 'Nanny' ein wenig Famlienberatungs-Schnickschnack: Der
stets herumbrüllenden Mutter und den stets zuschlagenden Kindern
werden 'Regeln' beigebracht. Die Kinder 'lernen', Sanktionen für
Regelverstöße zu akzeptieren. / Das gelingt der 'Nanny' immer großartig, plötzlich sind die Leute zahm wie die Zootiere.
/ Das wird als grandioser Erfolg des durchgreifenden Nanny-Sheriffs gefeiert.
/ Zum Schluss gibt es Glücksszenen von Familienharmonie: Die verfeindeten
Familienmitglieder versammeln sich am Küchentisch, geben sich die
Hände und sagen: 'Piep piep piep, wir haben uns lieb'! Sie sind
so artig, dass man sich vorstellen kann, wie sie, sobald das Fernsehteam
weg ist, wieder übereinander herfallen. - Diese Jahrmarktbuden-Show
tritt aber mit dem Anspruch auf, eine 'pädagogische Beratungssendung'
zu sein.
Angesichts solcher Dekonstruktionen muss man als kritischer Analytiker
von 'außerhalb der Sachen' einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben.
Man muss der 'pädagogischen Beratungssendung' nachweisen, dass sie
keine ist. Und man muss klären, dass das der Sache - gewalttätige
Kinder und Jugendliche - angemessen Genre oder Format nicht die Jahrmarktbuden-Show
ist, sondern das Hintergrund-Magazin, die Reportage oder Dokumentation.
(Analysen von Super Nanny: U. Prokop 2008, Stach 2008. Talkshows: U.
Prokop und Jansen 2006, Stach 2006)
Als kritischer Analytiker
muss man aber auch von außen wieder
nach innen gehen, und wenn das Genre oder Format vieler kommerziellen
Mainstream-Produkte die Jahrmarktbuden-Attraktions-Show ist, dann muss
man auch die 'Logik der Jahrmarktbude' beachten und untersuchen. In Jahrmarktbuden
werden Monster und Gespenster gezeigt und Zaubertricks. Und wenn dort
eine 'Super-Nanny' auftritt, die das Kunststück zeigt, wie man Monster
in zahme Zootiere verzaubert, ist das makaber und märchenhaft zugleich.
Als Kritiker wiederum muss man das Zauberkunststück fertigbringen,
die Logik der Jahrmarktbude von innen her zu verstehen, ohne von außen
her apologetisch zu werden.
[...]
Fortsetzung
Einige Fragen müssen noch geklärt werden, in den letzten Stücken
dieser Einleitung.
Man sollte nicht auf aufgeblasene Kunst-'Theorien' hereinfallen
Es drängt sich die Frage auf: Wieso sollen wir ausgerechnet in
den kulturindustriellen Produkten nach ästhetischen Qualitäten
und Strukturen suchen, wo doch im Bereich der 'Kunst' gerade, und das
schon lang, das Unvollkommene, Unstrukturierte, Entgrenzte, Alltägliche,
Naturgegebene zur Kunst erklärt wird, außerdem das Malen an
sich, der Pinselstrich an sich oder die Farbe an sich oder die Leinwand
als solche oder die leere Wand als solche etc.? Wenn alles 'Kunst' und
alles 'Kultur' ist, wenn selbst die Natur 'Kultur' ist, weil auch sie
'Erscheinungen' hervorbringt - wie kann man dann heute, im 21. Jahrhundert,
noch so un-postmodern sein, nach Qualitäten von Strukturen zu fragen?
Ist nicht heute, wie Eberhard Ortland behauptet, die Kunst, "im
modernen Spektrum ausdifferenzierter Geltungssphären" entlastet "von
der Aufgabe der Repräsentation verehrungswürdiger Allgemeinheiten"?
(2001: 263)
Wenn selbst das Hässliche, mittels dessen Darstellung und Inszenierung
einst in der beginnenden Moderne die Welt kritisiert werden sollte, inzwischen
durch die (angebliche) 'ubiquitäre Hässlichkeit der Medienwelt'
eingeholt, dem Hässlichen also der Stachel gezogen wurde - wozu
ausgerechnet im Medienbereich noch Qualitäten unterscheiden wollen?
Wenn der Architekt Wei Wei auf der Documenta 2007 den Trümmerhaufen
seiner vom Orkan umgewehten Riesen-Skulptur - bestehend aus alten Holztüren
- in Trümmern lässt, weil sie 'so mehr wert ist', denn jetzt
habe 'die Natur sie mitgeschaffen' - ist es angesichts des Trends zum
Naturalismus nicht hoffnungslos altmodisch, überholt, verstaubt,
obsolet, inopportun etc. etc., nach Qualitäten von Strukturen zu
fragen?
Ich habe nichts gegen alle
Arten von 'Entgrenzungen', vertrete kein reaktionäres Schönheitsideal und beklage keinen Verlust der
Mitte oder des Bodens. Jeder soll machen was er will, solange er anderen
nicht schadet. Kunst braucht die Grenzüberschreitung, ob für
den Markt oder nicht. Auch die Medienprodukte beziehen ihre Faszination
daraus, dass sie Grenzüberschreitungen, Entgrenzungen, Tabuverletzungen
unternehmen, und das ist nicht das Schlechteste an ihnen.
Aber ich bin dagegen, die Welt von aufgeblasenen Legitimationsideologien
aus zu betrachten. Wer zwingt uns denn, ein Pissoirbecken für einen
epochalen Wandel in der Kunst zu halten, nur weil Duchamp es 1917 mit
'R. Mutt' signierte, es Fountain nannte und bei der New Yorker Society
of Independent Artists für deren Jahresausstellung einreichte? (Es
wurde übrigens nicht angenommen.) Und nur weil Künstler und
Theoretiker dazu Phrasen über 'die Poetik des Ready-made', über
dessen 'unerwartete Schönheit' über den Bruch' und 'die Zerstörung',
die 'schlagende Evidenz eines neuen Sinns' etc. etc. lieferten? Heute
noch schreibt Umberto Eco bewundernd: "Wenn Duchamp [...] ein Urinal
ausstellt [...], denunziert er auf paradoxe Weise die Versklavung des
Objekts durch die Funktion." (2006: 377)
Oder Duchamps Flaschentrockner? (Ein Flaschentrockner ist ein rundes
Gestell, bestehend aus mehreren übereinander angeordneten eisernen
Reifen, an denen viele Spieße angebracht sind, auf die man Weinflaschen
aufstecken kann. Einen solchen hatte Duchamp 1914 im Kaufhaus gekauft
und signiert; ausgestellt wurde ein zweites signiertes Exemplar erst
1936.) Muss man in diesem Flaschentrockner wirklich, wie Michael Wetzel
das tut, mit Heidegger einen Bruch sehen "mit der Verweisung alltäglichen
Besorgens, [im Zeichen] einer Ablösung oder eines Abhebens vom Dienlichkeitszusammenhang,
um mittels der Suspendierung von Zuhandenheit die Vorstellung von Vorhandenheit
durchscheinen zu lassen."? (Wetzel 2002: 51f.)
Man muss schon sehr gutwillig sein, um all das in Duchamps Gags zu sehen.
'Kunst' ist selbst Teil der Kulturindustrie
Die allgemeine Rede von 'der
Kunst' ist verdächtig. Unablässig
wird da von den anderen Welten geschwärmt; von der Freiheit von
aller Instrumentalität; von der ungeheuren Konsequenz der Künstler
oder von der ungeheuren Sensibilität der 'ästhetischen Wahrnehmung'
- und dann präsentieren die Kunst-Idealisierer ausgerechnet Duchamps
Pissoirbecken oder die monochrom bemalte Leinwand als Inbegriff 'der
Kunst' und umgeben sie mit viel Freiheits-, Konsequenz- und Sensibilitäts-Geschwätz!
Spiegelbildlich dazu belegen die Kunst-Idealisierer in ebenso allgemeiner
Rede 'die Kulturindustrie' mit Schimpfwörtern. Dabei gibt es auch
in der Kulturindustrie - im übertragenen Sinn - viele Ready-mades,
viel Monochromes, jede Menge schlichte Gags, nur dort sind sie plötzlich
nichts als 'banal' - weil sie in den Medien und nicht in der Kunsthalle
präsentiert werden. Plötzlich ist der schlichte Gag banal,
weil es da 'die Massen' sind, die das betrachten, und bekanntlich können
ja 'die Massen' nicht so ungeheuer sensibel sein wie ein Interpret von
'Kunst', der das "ästhetische Gewahrwerden" (Seel 2003:
39) pflegt.
Also: Es ist wichtig, nicht auf Kunst-Idealisierungs-Ideologien und auf
Kulturindustrie-Diffamierungs-Ideologien hereinzufallen.
Auch Kunstwerke sind Waren.
Nicht das macht sie zur Kulturindustrie, sondern die oligopolistischen
Marktstrukturen: Da gibt es mächtige
Kunsthändler und Galerien; mächtige Museen wie z.B. das Museum
of Modern Art, die Kunstrichtungen lancieren; mächtige Ausstellungs-Macher,
die Trends setzen. (s. Rauterberg 2007)
Und es gibt diese mächtigen Kritiker ('Theoretiker'), die in Kunstzeitschriften,
Katalogen und Feuilletons die lancierten Richtungen mit Legitimationsideologien
('Theorien') versehen: 'Thematisierung der Flächigkeit der Leinwand';
'Suche nach der Reinheit der Form'; 'Malen des Malens an sich'; 'Suche
nach dem reinen Sein, dem Spirituellen'; 'das Kontingente der narrativen
Leinwände mit Symbolen für das Immaterielle bekämpfen'
etc. etc. Die Rhetorik des 'Spirituellen' ist endlos. Es war in den 1960er
Jahren das Dogma der Reduktion und Dekonstruktion ('Purifizierung'),
verbreitet vom Kritiker ('Kunstpapst') und Kunsthistoriker Clement Greenberg,
mittels dessen der Minimalist Barnett Newman den Markterfolg für
seine 'anti-illusionistischen' Farbflächengestaltungen zustandebrachte.
Bis heute wird Markterfolg von Kritikern und von Künstlern gemacht,
die entsprechend ihren Legitimationstheorien ihre Bilder als 'gemalte
Theorie' produzieren. (s. Wolfe 1992)
Und es gibt reiche Sammler; oft sind das Konzerne, für die das alles
produziert wird. Deren Manager lassen sich vor Kunst fotografieren, um
sich so als 'grenzüberschreitende Visionäre' zu stilisieren.
(s. Ullrich 2000)
Schließlich ist heute auch das 'musée imaginaire', anders
als Malraux sich das dachte, ein Business, auch das Geschäft mit
Reproduktionen und Lizenzen ist Kulturindustrie. 2008 wurde in den Medien
das 500jährige Jubiläum von Dürers Betenden Händen gefeiert, die seit den 1950er Jahren tausendfach reproduziert (und als
Inbegriff von Kitsch verachtet) wurden und werden.
Wobei ich auch hier das Wort 'Kulturindustrie' nicht als Schimpfwort
verwende. Wir wollen ja gerade die Kategorien entwickeln, mittels derer
wir an kulturindustriellen Produkten feststellen können, ob sie
gut oder schlecht sind. Aber man sollte nicht so tun als habe 'die Kunst'
nichts mit Märkten und Marketing und marktgerechten 'ästhetischen'
Legitimationsideologien zu tun. Das hat sie. Auch damit werden wir uns
befassen.
Zum Schluss dieser Einleitung
noch eine kleine Klärung zu unseren ästhetischen
Maßstäben.
Ausschließlich Wahres, Gutes, Schönes nicht wünschenswert
Wir stellen an die kulturindustriellen
Produkte keine fundamental-ontologischen Absolutheitsansprüche. Selbst wenn wir das nicht tun, werden wir
zwangsläufig zu den klassischen ästhetischen Fragen nach dem
Wahren, Guten, Schönen kommen.
Das führe ich weiter unten aus, doch möchte ich noch Folgendes
sagen: Man kann auch nicht wollen, dass in den Medienprodukten ausschließlich
Wahres, Gutes, Schönes präsent sei. Das wäre unlebendig,
denn Wahres kann man nur erfassen, wenn man weiß, was Falsches
ist, Gutes nur, wenn man Schlechtes kennt, Schönes nur, wenn einem
Hässliches bekannt ist. Fielding sagte das in seinem Roman Tom
Jones (1749) so: "[...] was gibt wohl eine anschaulichere Erkenntnis vom
Schönen und Vortrefflichen als eben sein Gegensatz? Daher wird die
Schönheit des Tages und die Schönheit des Sommers durch das
Grauen der Nacht und des Winters hervorgehoben. Und ich glaube, wenn
es möglich wäre, daß ein Mensch nur die beiden ersteren
gesehen hätte, so hätte er nur einen sehr unvollkommenen Begriff
von ihrer Schönheit." ([1749] 1966: 210, Kursivierung hinzugefügt)
Das heißt auch: Man muss viel Nicht-Gelungenes analysieren, bis
man weiß, was Gelungenes ist. Meist findet man nur ein paar gelungene
Momente in einer Menge von Nicht-Gelungenem. Aber diese paar gelungenen
Momente nötigen zur Ästhetik der Kulturindustrie.
Das Literaturverzeichnis ist in dem Buch nachschlagbar.
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