Prof. Dr. Dieter Prokop

Kritische Theorie / Frankfurter Schule / Kulturindustrie / Medientheorie / Medienwissenschaft / Medienforschung / Wirtschaftssoziologie / Kritische Theorie des Gelds / Kritische Theorie Europas

Dieter Prokop (* 1941) ist Professor em. für Soziologie mit dem Schwerpunkt Medien an der Goethe-Universität Frankfurt.








Dieter Prokop (2015): Kritische Theorie Europas. Tectum Verlag, Marburg / ISBN: 978-3-8288-3618-1

 

     Eine kritische Theorie Europas muss mehr liefern
als idealisierte Entwürfe oder empörte Feststellungen


     Wozu noch ein Buch, wo man doch alle Informationen auch bei Wikipedia und auch sonst im Internet erhalten kann? Tatsächlich gibt es dort genug Stichwörter über alle Aspekte von Europa. Die Fülle und der Detailreichtum sind beeindruckend. - Nur bewegt sich die Darstellung meistens im Bereich des WAS und des WIE. Mir geht es um das WARUM. Ich möchte den Blick auf die Hintergründe. Ich möchte wissen, warum Europa nicht das wird, was es einmal werden sollte: empfänglich für die vielen unterschiedlichen Kulturen, offen für Völkerverständigung, demokratisch und tolerant, und das nicht nur gegenüber Minderheiten, sondern auch gegenüber Mehrheiten. Um das WARUM zu erkennen, muss man die Gegensätze, die Widersprüche und die Dilemmata untersuchen, von denen die europäische Integration geprägt ist.
Gegen die unvermeidliche Tatsache, dass man die Welt immer aus einer Perspektive betrachtet, möchte ich dadurch angehen, dass ich meine Einschätzung auf Analysen von Rechtswissenschaftlern, Journalisten, Wirtschaftswissenschaftlern, Finanzwissenschaftlern, Literaturwissenschaftlern, Sozialwissenschaftlern und Philosophen stütze, und zwar möglichst aus allen fachwissenschaftlichen, politischen, journalistischen Lagern. Was zählt, ist die realitätstüchtige Sachanalyse, und wer dazu beiträgt, ist mir recht.
     Und noch etwas verspreche ich: In diesem Buch werden die Sachen im Klartext dargestellt. Ich werde meine Darstellung nicht in einem Fachjargon verklausulieren, und all die beschönigenden Wörter, die in den Debatten herumschwirren, werden auf das zurückgeführt, was sich in der Realität dahinter verbirgt.

     Man könnte annehmen, dass eine 'kritische Theorie Europas' eine politische Philosophie sein wird. Aber in der Philosophie der Politik geht es um normative, ideale Entwürfe, und das reicht nicht. Notwendig ist eine realistische Analyse der empirischen Realität Europas.

     Die politische Philosophie war und ist weniger an der Analyse realer Macht-Mechanismen interessiert, sondern mehr an idealen Entwürfen, also daran, wie staatliche und gesellschaftliche Ordnung und Stabilität zustande kommen sollten und welche Rolle der Staat oder auch die Wirtschaft gegenüber dem Individuum spielen dürfen und mit welchem Recht sie das dürfen oder nicht dürfen. Man berief sich auf das Naturrecht, auf die conditio humana oder auf Menschenrechte. Oder auf die Staatsraison oder auf einen rationalen Gesellschaftsvertrag, den die Menschen-Wölfe eingehen.
      Oder man berief sich umgekehrt - heute ist das in Europa beliebter - auf einen allgemeinen Willen. Für Rousseau war die volonté générale Bestandteil eines 'moralischen Vertrags' (contrat social) des Volks untereinander. Damit war kein rationaler Gesellschaftsvertrag gemeint, sondern ein moralischer ('social' hat im Französischen auch die Bedeutung 'moralisch'), in dem jeder Einzelne sich mit all seinen Rechten total der Gemeinschaft übereignet. Rousseau: "Denn wenn jeder sich vollkommen hingibt, ist erstens die Lage für alle die gleiche, und wenn die Lage für alle die gleiche ist, hat keiner ein Interesse daran, sie den anderen beschwerlich zu machen. [...] Jeder von uns unterstellt der Gemeinschaft seine Person und alles, was sein ist, unter der höchsten Leitung des allgemeinen Willens; und wir als Körperschaft empfangen jedes Mitglied als vom Ganzen unabtrennbaren Teil."
     "Wir als Körperschaft" - Die volonté générale war ein idealisierter Entwurf, ein angeblich idealer, von Rousseau jedoch stark idealisierter Gemeinsinn. Rousseau ging mit diesem 'Wir' sogar so weit, dass diese 'Körperschaft' jene töten darf, die sich dem allgemeinen Willen, dem idealen (von Rousseau idealisierten) Gemeinsinn nicht einfügen. Rousseau: "Und wenn jemand, der sich öffentlich zu eben diesen Dogmen bekannt hat, sich verhält, als wenn er sie nicht glaube, so soll er mit dem Tode bestraft werden."
     Voltaire schrieb dazu eine Bemerkung an den Rand seines (bis heute erhaltenen) Du Contrat Social-Exemplars: "Das Ganze ist falsch. Ich übergebe mich nicht meinen Mitbürgern ohne Vorbehalt. Ich gebe ihnen nicht die Macht, mich nach der Stimmenmehrheit zu töten und zu bestehlen. Ich unterwerfe mich, um ihnen zu helfen und um geholfen zu bekommen, um Gerechtigkeit zu üben und erwiesen zu bekommen. Keine anderen Übereinkommen."

     Das ist durchaus aktuell: Haben die EU-Kommission und das Europäische Parlament das Recht, zu Gunsten ihres idealisierten Entwurfs, der 'europäischen Wertegemeinschaft', in Kauf zu nehmen, dass die überstürzte Assoziierung der Ukraine an die EU dort einen Krieg auslöst, also Menschen getötet werden? Nein! Hat die Europäische Zentralbank das Recht, durch extreme Niedrigzinspolitik die Sparer um ihr Erspartes zu bringen? Nein! Und wenn Voltaire sich freiwillig unterwerfen wollte, um 'zu helfen und um geholfen zu bekommen', hatte er sich sicherlich nicht den Europäischen Stabilitäts Mechanismus (ESM) vorgestellt, über den zwar die Euro-Nordstaaten den Euro-Südstaaten beim Schuldenzahlen helfen, von dem aber die Steuerzahler der Euro-Nordstaaten nicht geholfen bekommen, sondern im Gegenteil in Haftung genommen werden.

     Hobbes (1651) sah das Wölfische im Menschen, das jedoch aus Eigeninteresse auch in rationalen Vertragsverhältnissen zähmbar ist. Adam Smith (1776) sah in der Eigenliebe (der Orientierung am eigenen Vorteil) sogar etwas wirtschaftlich und gesellschaftlich Produktives, weil das Arbeitsteilung ermöglicht.
     Dagegen setzte Kant (1788) auf die Gesinnungen, darauf, dass die Menschen damit aufhören, sich als Mittel zum Zweck anzusehen. John Rawls (1975) hat die Prinzipien der Gerechtigkeit extrapoliert und hierbei auf 'Fairness' gesetzt, Habermas (1996) hat eine Diskursethik entwickelt und dabei auf die moralische Pflicht aller zur Beratschlagung ('Deliberation') gesetzt.
     Das Problem bei diesen Entwürfen sehe ich in der Losgelöstheit der Theorien vom Bereich des Empirischen. Im Klartext: in der Losgelöstheit von der Realität.

     Das empirische Europa - das sind Machtstrukturen. Einer der ersten, der sich auf die empirischen Machtstrukturen einließ, war vor fast 500 Jahren Machiavelli. Er untersuchte, unter welchen strukturellen Bedingungen Herrscher erfolgreich waren (s. Machiavelli 1532a, 1532b). Selten war der Erfolg Herrschern beschert, die sittlichen Prinzipien folgten. Machiavelli beobachtete, wie in der Politik letztlich der Zweck der Macht-Eroberung und Macht-Erhaltung die Mittel heiligt. Er beobachtete die außersittlichen, 'tierischen', animalischen Mechanismen der Herrschaftssicherung: die Strategie des Löwen, der die Wölfe durch Macht und Gebrüll abschrecken kann, und Strategie des Fuchses, der die Wölfe durch List besiegt.
     Machiavelli ist durchaus aktuell. Heute geht es zwar offiziell um Herrschaftssicherung durch Recht - doch heute wird Herrschaftssicherung auch durch trickreich überdehnte Rechts- und Vertragsauslegungen und auch durch Vertragsverletzungen betrieben.
     Machiavelli betrachtete das Ganze zwar empirisch, also die realen Vorgänge, aber er stellte sich auf die Seite der Herrscher und gab ihnen Ratschläge zur Machterhaltung (s. Kapitel 101). Heute findet sich dieser 'Machiavellismus' zum Beispiel in der Betrachtung des Ganzen als 'System', in der sich die Betrachter dann - z.B. bei der Frage der europäischen Integration - auf die Seite der 'Systemlogik' stellen und auf den Standpunkt, es gebe 'funktionale Erfordernisse 'des Systems', 'systemisch Relevantes', für deren Erhaltung man auch Verträge verletzen dürfe.
     Wenn man jedoch Einsicht in die strukturelle Logiken gewinnen, aber die Herrscherperspektive nicht einnehmen möchte, dann muss man die Fakten genau studieren.

     Aber das 'Wühlen in der Empirie' darf auch nicht dazu führen, dass man in den Tatsachen-Feststellungen versinkt. Sicher, es gibt ganz ausgezeichnete, detailreiche Fakten-Feststellungen. Aber so wie die philosophischen Entwürfe sich zu sehr außerhalb der Sachen bewegen, bewegen sich die Tatsachen-Feststellungen oft zu sehr innerhalb. Man braucht ein Denken, das der Realität gerecht werden kann, ohne gegenüber dem, was da ist, in Apologie zu enden.
Manchmal münden Tatsachen-Feststellungen auch nicht in Apologie, sondern sie werden in empörtem Ton vorgetragen, mit der Larmoyanz dessen, der alles besser machen würde, wenn man ihn an die Hebel der Macht ließe, was man leider nicht tut. Aber auch empörte Tatsachen-Feststellungen über stattgefundene oder stattfindende 'Realpolitik' genügen nicht.

     Ich meine: Ein Denken, das sich um Realitätsgerechtigkeit bemühte, um die in der Empirie, der Realität bestehende Widersprüchlichkeit und Dialektik - das leistete die kritische Theorie Horkheimers und Adornos. Auch sie hatten moralische Prinzipien, kurz gesagt: 'die befreite Gesellschaft'. Aber ihr kritisches Interesse richtete sich nicht auf idealisierte Entwürfe, sondern darauf, herauszufinden, warum das Bessere nicht zustande kommt.
    Darum geht es auch in Bezug auf Europa.

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