PROKOP, Dieter (2016): Europa mit der Moralkeule.
Tredition Verlag, Hamburg. Auch als eBook.
DIE MORALISCHEN MAXIMALISTEN:
Der
Frankfurter Soziologe Dieter Prokop kritisiert, dass in der
EU einzelne Politiker oder ganze Regierungen die
Verträge,
das Recht, die Gesetze verletzen oder dehnen - und das mit
naturrechtlich veredelter Moral (Humanität, Menschenrechte,
Solidarität etc.) begründen. Prokop zeigt, dass
diese sich mit Pathos auf Menschlichkeit berufende "Politik
mit der Moralkeule" in Wirklichkeit die menschlichste
Forderung des Naturrechts missachtet: die Maxime der Angemessenheit.
Er untersucht die unangemessene politische Übergriffigkeit
dieser Politik gegenüber den Lebensweisen und Interessen
und auch gegenüber dem Verstand der Menschen.
DIE WERBUNGS-FALLE:
Prokop untersucht auch, wie es zu dieser Übergriffigkeit
kommt. Dass die Moralpolitikerinnen und Moralpolitiker glauben,
die Wählerinnen und Wähler bei ihren 'Wertorientierungen'
packen zu können - das wurde ihnen von der Werbung eingeredet:
von den Medien, die Werbeplätze verkaufen, von den Werbeagenturen,
von der Markt- und Meinungsforschung, von den Fake News-Machern
und von Facebook, Twitter, die ihre gesammelten Daten ('Big
Data') an die Werbeagenturen verkaufen. Prokop weist nach,
dass die Moralkeulen-Politiker damit in einer Falle sitzen,
in der Werbungs-Falle: "Sie werben für 'Werte' und
appellieren an die Gefühle und wollen nicht wahrhaben,
dass die Menschen ihnen nicht glauben, weil sie Werbung überhaupt
für unglaubwürdig halten."
Inhaltsverzeichnis
HYBRIS DES HERZENS
VERSUS ANGEMESSENHEIT
Das Naturrecht ist unverzichtbar angesichts der
Inhumanität in der Welt, aber es darf nicht als Moralkeule
missbraucht werden
Die
Moralkeulen-Politik praktiziert einen moralischen
Maximalismus, der fahrlässig mit Recht und Gesetz
umgeht |
21 |
Das positive
Recht, die formale Gleichheit aller und die
faktischen Unterschiede unter den Menschen |
21 |
Das Naturrecht,
die Natur als ewige, zeitlose Form und deren
Bejubelung als Werte-Quelle für alle Menschen |
24 |
Auch das Eigentum,
das private und das öffentliche, ist ein
Menschen- und Bürgerrecht |
28 |
Das Naturrecht
wird zur Moralkeule, wenn die ihm immanente
Regel der Angemessenheit nicht befolgt wird |
29 |
Selbstermächtigung – Selbstbestimmung – Selbstverantwortlichkeit |
37 |
Naturrecht
versus Vernunftrecht. Kants rigoroser
Imperativ |
39 |
Exkurs. Die Keule der Dike und die Zügel der Nemesis.
Zur Kulturgeschichte der Symbole des Ordnung und der
Mäßigung |
42 |
Humanitäre
Moral ist unverzichtbar, aber von
den Menschen zu verlangen, dass sie bedingungslos
›Werten‹ folgen statt ihrem Verstand, ist politisch
übergriffig
Die Moralkeulen-Politik
setzt voraus, dass die Menschen im
Leben nichts Besseres zu tun haben als ›Werte‹ zu befolgen |
49 |
Die ›Politik
der Lebensformen‹ als politische
Hochglanzbroschüre |
49 |
›Unsere
europäischen Grundwerte‹, die nur Binnenmarkt-Werte
meinen und die Bürgerrechte ignorieren |
57 |
Der ›Wert‹ der ›europäischen
Solidarität‹,
der die Unsolidarität der
Eliten in den EU-Südstaaten unter den Teppich kehrt |
59 |
Warum es nicht
ausreicht, wenn Moralphilosophen empfehlen, ›richtige Werte‹ wollen zu wollen |
60 |
Exkurs. Shakespeares
Maß für Maß (1603/04). Recht und Moral
zwischen Sturheit und Vergebungschenken |
63 |
Die Moralkeulen-Politik
stilisiert sich und andere als Opfer und
gewinnt damit ein Druckmittel im Verteilungskampf um Geld,
Posten und Quoten |
69 |
›Schluss
der Debatte!‹: Opfer-Mythen als Mittel der moralischen
Inhaftungnahme der Bevölkerung |
69 |
Das Herz versus
das Recht. Hegels Kritik der romantischen
Bewegung |
75 |
›Dunkle‹ Seiten
des moralisch-maximalistischen Mitleids mit
den Opfern: das Ansprechen von narzisstischen Größenfantasien
und empathischem Sadismus |
80 |
Filmkritischer
Exkurs. Ein moralinsaures Musical:
LA LA LAND (2016). |
83 |
VIRTUELLE KONSTRUKTION
VERSUS GLAUBWÜRDIGKEIT
Politik, die ›Werte‹ und Stimmungen für wichtiger
hält als den Verstand der Menschen, befindet
sich in der Werbungs-Falle
Die Werbungs-Falle
I: die Fallensteller. Die Marktforschung;
die Meinungsforschung; die Werbeagenturen; die Werbeplätze
und Zielgruppen verkaufenden Medien; die Fake News-Macher;
die Zielgruppen-Daten verkaufenden ›sozialen‹ Medien |
91 |
Das einseitige
Modell von Gesellschaft als System ›institutionalisierter
Werte‹ und dessen Einfluss auf die Praxis
der Markt- und Meinungsforschung |
91 |
Das nicht sehr
realistische Modell der angeblich individualisierten
›postmaterialistischen Werte‹ |
93 |
Wie das Bild
vom ›einfachen Konsumenten und Wähler‹ konstruiert wird, der glücklich in der Werteprovinz seines ›sozialen Milieus‹ lebt
und dort angeblich kein anderes Interesse
hat, als seine ›Lebensform‹ zu pflegen |
97 |
Die in der Mitte
von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft entstehende
virtuelle
Konstruktion eines immer emotional handelnden, ›Werte‹ befolgenden
Konsumentenvolks und Wählervolks ist
populistisch:
ein Populismus der Mitte. |
108 |
Exkurs über
den Rechtspopulismus |
115 |
Der Rechtpopulismus
ist keine Politik der Moralkeule, sondern
eine amoralische Medien-Show des Tabubruchs |
115 |
Hat der Rechtspopulismus
wirklich einen rationalen Kern? Wenn
ja: Ist das die sachbezogene Rationalität von Demokraten
oder das
karriereorientierte Kalkül von opportunistischen
Mitläufern? |
118 |
New Reaganism:
Trump ist nur zum Teil ein Rechtspopulist.
In seiner Sachpolitik ist er ein neoliberaler-marktradikaler
Deregulierer
und spielt politische Pokerspiele, wie alle Politiker
das heute tun |
120 |
Wer für ›Linkspopulismus‹ eintritt,
als Alternative zum
Rechtspopulismus,
ist und bleibt ein Populist und damit ein
Feind von Realitätstüchtigkeit |
123 |
Die Werbungs-Falle
II: die Unglaubwürdigkeit.
Das Ansprechen von ›Werten‹ und Stimmungen kann
zwar Markenkenntnisse schaffen, aber nicht das reale
Kauf- und Wahlverhalten beeinflussen |
127 |
Wahlkampf 2017:
Merkel, Gabriel und Schulz in der
Werbungs-Falle |
127 |
Zwar gibt es
in den Medien, vor allem den ›sozialen‹ Medien,
Gefühlsstürme, Shitstorms, Fake News etc. … |
135 |
… aber
kommerzielle und politische Werbung gilt als unglaubwürdig
und die ›sozialen‹ Medien, die Fake News etc.
auch, und deshalb ist deren Wirkung auf das reale Kauf- und
Wahlverhalten gering |
137 |
Alle Menschen
haben Wertorientierungen – aber auch einen
lebendigen Verstand und materielle Interessen |
141 |
Die Zwitscher-Funktion
der Werbung: Beschallung der Welt mit
Marken-Präsenz und Marken-Positionierung, mehr nicht |
144 |
MORALISCHE UNTERWERFUNG
VERSUS DEMOKRATISCHER RECHTSZUSTAND
Das humane Gegenmodell zur übergriffigen
Moralkeulen-Politik ist die Rechtsstaatlichkeit
Das
einigende Band aller Menschen kann nur durch
angemessene Respektierung der rechtlichen Grenzen hergestellt
werden, welche demokratische Institutionen setzen |
151 |
Gesellschaftsvertrag
Ja –aber kein idealisierter moralischer! |
152 |
Recht und Gesetz
Ja – aber kein Law & Order! |
156 |
Das Dilemma der
demokratisch ausgeübten Macht: die
notwendigen Grenzen des Durchgreifens sind immer zugleich
notwendige Grenzen der Barmherzigkeit |
157 |
Die eigentliche
Grenzverletzung in der EU besteht in der
skandalösen Nichtbeachtung und ›Dehnung‹ der europäischen
Verträge und damit des Rechts und der Gesetze |
160 |
Gegen die Moralkeule: »Aller
Zwang zum Dogma ist abscheulich.« (Voltaire) |
162 |
Schlusswort |
165 |
Literatur |
169 |
Einleitung
Demokratie bedeutet ›Leben und leben lassen‹.
Die Leute sollen nach
ihrer Façon selig werden. Das bedeutet auch: Die
Leute sollen an ihre
Moral und ihre ›Werte‹ glauben soviel sie wollen.
Sie sollen für ihre ›Werte‹ in der Öffentlichkeit
soviel werben wie sie wollen und die
Meinungsfreiheit es gestattet (was Hetze und Verletzungen
von Persönlichkeitsrechten
ausschließt). Jeder/Jede soll sich auch als Teil
einer ›Gemeinschaft‹, einer ›Community‹, empfinden
und, wenn gewünscht,
auch als Teil einer ›Wertegemeinschaft‹.
Und da es auf der Welt nicht
nur Gläubige gibt, sollen auch ›Ungläubige‹ so
ungläubig sein wie sie
wollen.
Und Europa: Sollen die Politiker der EU sich doch als Vertreter ›unserer
europäischen Werte ‹darstellen, als Kämpfer
für Demokratie
oder als Robin Hoods der Menschenrechte. Das sind ›gute
Werte‹,
selbst wenn Demokratie, eine repräsentative Demokratie,
auf der EUEbene
nicht existiert. (Und auch nicht existieren kann, weil
das nämlich
wegen der Bevölkerungsgröße zur deutschen und
französischen
Dominanz in der EU führen würde.) Das alles ist möglich
und ist in
Demokratien auch notwendig.
Nicht akzeptabel ist in Demokratien jedoch eins: dass einzelne
Personen
oder ganze Regierungen oder Institutionen die Verträge,
das
Recht, die Gesetze verletzen oder ›dehnen‹ und
das mit naturrechtlichedler
Moral (Humanität, Menschenrechte, Solidarität
etc.) legitimieren.
Das geht nicht, weil die Würde des Menschen nur
unantastbar sein
kann, wenn es auch der demokratische Rechtszustand ist.
Jener ist nur
im Rahmen demokratischer Prozesse veränderbar, im
Rahmen von
Parlamenten, Räten und Gremien aller Art (Gemeinderäten,
Stadträten,
Verbandsräten, Aufsichtsräten etc.), Volksabstimmungen, öffentlichen
Meinungsäußerungen, Bürgerinitiativen,
Versammlungen, Demonstrationen.
Dass Verträge und Gesetze im Namen edler ›Werte‹ verletzt
oder gedehnt werden, geht auch deshalb nicht, weil im Namen
der Menschenrechte, der Menschenwürde, der Humanität,
der Gerechtigkeit
etc. nicht immer nur Gutes getan wird.
Die Tendenz, die Grenzen des Rechts unter Berufung auf Moral
(›Werte‹) zu verletzen, oder zu dehnen, beruht auf einem moralischen
Maximalismus, den ich ›Politik der Moralkeule‹ nenne. (Und es gibt
auch
einen ›Journalismus der Moralkeule‹.)
Die Politik der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise ist mit dieser
Definition der ›Politik der Moralkeule‹ nur zum Teil erfassbar.
Als die Bundeskanzlerin 2015 die deutsche Grenze öffnete – oder
genauer: als sie per Kanzlerinnen-Anordnung die Kontrolle der Legalität
der
Einreisen und die Registrierung der Einreisenden an der deutschen Grenze
umging – und Hunderttausende von illegal Eingereisten pauschal willkommen
hieß, berief sie sich auf Humanität als ›Wert‹ (mit dem
berechtigten
Hinweis, dass Deutschland nicht Hunderttausende von bereits in
Griechenland illegal Eingereisten abweisen und in Österreich bzw. auf
dem gesamten Balkan herum irren lassen könne, weil das den Balkan
zum Pulverfass machen könnte). Das kann man als ›Politik der Moralkeule‹ definieren oder freundlicher als ›humanitäre Initiative‹.
(Wobei
bis heute die Frage ist, ob man damals, um ein europäisches Gesetz, die
Schengen-Reisefreiheit zu erhalten, es ignorieren durfte, dass Andere,
vor allem Griechenland, das gleiche europäische Recht, das neben der
Reisefreiheit auch die Sicherung der Schengen-Außengrenzen vorsieht,
bereits gebrochen hatten.)
Das war 2015/2016. Aber 2017 ist die Kanzlerin wohl die Einzige in
Europa, die sich darum bemüht, den ›Wert‹ der Humanität
in realpolitischem
Handeln zu operationalisieren; die also die Gesamtlage der
Strukturprobleme und der Dilemmata einer menschlicheren Lösung der
europäischen Flüchtlingskrise im Blick hat. Diese Flüchtlingspolitik
von 2017 muss man anders definieren. Jene wird als ›Abschottungspolitik‹ kritisiert,
aber das geht an der Sache vorbei, denn bei dieser Politik
geht es darum, der ›Migration‹ einen institutionellen und womöglich
auch europäischen gesetzlichen Rahmen zu geben, einen Rahmen von
Strukturmaßnahmen, die die Ursprungsstaaten der ›Migration‹ und
deren ökonomisches, politisches, gesellschaftliches Umfeld einbezieht und
auch den Rahmen des europäischen Rechts. Für diese politische
Sisyphusarbeit ist der Begriff ›Politik der Moralkeule‹ unangemessen.
Denn es geht hierbei nicht um die Durchsetzung von moralischen
Maximalforderungen.
Aber auch ›Abschottungspolitik‹ ist ein unangemessener
Begriff,
weil jener vom Standpunkt eines moralischen Maximalismus
aus gebildet
wurde. Das geht aber nicht, weil die europäischen
Staaten zwar
Asylberechtigte aufnehmen können und die Außengrenzstaaten
das
auch müssen, aber nicht Millionen von Wirtschafts-
und Sozialmigranten. Jene kamen zunächst vor allem aus dem Balkan und
kommen heute
aus dem Nahen und Fernen Osten und ganz Afrika. Europa
könnte
auf
die Hungersnöte im Jemen, im Südsudan, in Somalia
und Nigeria und
den dadurch bewirkten Fluchtbewegungen nach Ägypten,
Tunesien,
Libyen, Algerien, Marokko mittels karitativer Maßnamen
reagieren,
beispielsweise durch eine weit großzügigere finanzielle
Unterstützung des
UNHCR, des Hilfswerks der UNO. Aber nicht dadurch, dass
man Karitas
zum Zweck aller Politik macht und darüber vergisst,
dass Politik
Interessen zu vertreten hat, demokratische Politik nicht
zuletzt auch
die Interessen der eigenen Bevölkerung an Rechtssicherheit.
(Wobei ›eigene Bevölkerung‹ hier alle Inhaber/Inhaberinnen
der Staatsangehörigkeit
des betreffenden EU-Staats meint.)
Bei der Politik der Bundeskanzlerin von 2017 geht es um
die Entwicklung
eines internationalen Rechtzustands. Wenn man das ungarische
Modell der Zäune und der Lager an der EU-Außengrenze
für inhuman
und ohnehin für innerhalb der EU, des europäischen
Binnenmarkts,
unangemessen hält, muss man in den Ursprungstaaten
und den Umfeldstaaten
der ›Migration‹ deren Ursachen in den Griff
kriegen. Das ist
keine Politik der Moralkeule. Man könnte das ›Politik
der Herstellung
eines internationalen Rechtszustands‹ nennen. Jene
kritisiere ich nicht,
ich befürworte sie. Ich halte die Herstellung und
Beachtung des demokratischen
Rechtszustands für das Gegenmodell zur ›Politik
der Moralkeule‹.
(Selbst wenn nicht absehbar ist, ob diese Verhandlungspolitik
in der nächsten Zeit die enorme Zahl der illegalen Einreisen
in den
Schengen-Raum wirklich verringern wird.)
Damit gleich zu Beginn deutlich wird, was hier mit ›Moralkeule‹ gemeint ist, füge ich hier eine Liste in Stichworten an.
Vorbemerkung:
Hier soll niemand kritisiert werden, die/der moralisch, human denkt,
sich um ein moralisches und humanitäres Handeln bemüht und Mitleid
mit Menschen in Not hat und ihnen helfen möchte. Kritisiert wird
hier die Verletzung oder ›Dehnung‹ von Verträgen, von Recht
und
Gesetz,
also des demokratischen Rechtszustands, durch Selbstermächtigung
und durch die Instrumentalisierung von Moral zur Moralkeule. Die
Dimensionen der Moralkeulen –des moralischen Maximalismus– zu
erörtern, ist die Absicht dieses Buchs – immer bei Beachtung der legitimen
naturrechtlichen Prämissen, die zwar auch in den Moralkeulen
enthalten sind, von ihnen jedoch instrumentalisiert werden.
Die Moralkeule: ›Unsere europäischen Grundwerte‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Vortäuschung
von
Bürgerfreiheiten, wo es nur um die Freiheiten des EU-Binnenmarkts
geht; die Politik im Interesse des EU-Binnenmarkts, auch gegenüber
den Vertragspartnern der EU (z. B. der Schweiz, nach dem Brexit auch
Großbritannien), d. h. vor allem: die Durchsetzung der ›Arbeitnehmerfreizügigkeit‹.
Die dahinterstehende Krise: die einseitig neoliberale-marktradikale
Wirtschaftsorientierung der EU; speziell das mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit
einhergehende Lohndumping; die dadurch ausgelöste
Feindschaft in den Bevölkerungen gegenüber ausländischen Niedriglohn-Arbeitskräften
und Sozialleistungen in Anspruch Nehmenden.
Damit zusammenhängend: die Brexit-Krise. / Dazu kommt das Demokratiedefizit
der EU und die Vernachlässigung des im Lissabon-Vertrag
festgelegten
Subsidiaritätsprinzips und damit die Legitimationskrise der
EU.
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: Bei der
moralischen
Betonung ›unserer Grundwerte‹ handelt sich nur um die Binnenmarkt-Freiheiten,
nicht aber um die Bürgerfreiheiten (Demokratie, Soziales; öffentlich-rechtliches
Eigentum). / Dazu kommt das zentralistische
Denken und Handeln der EU-Kommission, das mittels Richtlinien
durchgesetzt wird.
Das Hauptproblem: die Interessen der supranationalen Konzerne an
Freizügigkeit von Niedriglohn-Arbeitskräften. / Dazu kommt die Regulierungswut
der EU-Kommission (Gurkenkrümmungen, Käse-Definitionen)
und vor allem der EU-Arbeitsgruppe Ökodesign (Glühbirnen,
Kaffeemaschinen etc. Ökodesign hat hierbei nichts mit
Design zu tun,
sondern meint hier lediglich den Energieverbrauch der
Geräte.)
Die Moralkeule: ›Willkommenskultur‹ und das große
WIR.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Flüchtlingspolitik
der deutschen Bundesregierung, vor allem 2015/2016; das
Eintreten
von Parteien
und Nongovernment Organizations (NGOs) oder auch einzelnen
Politikern und Journalisten für eine ›Politik der
offenen Grenzen‹, ohne
Beachtung der ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen
Folgen.
Die dahinterstehende Krise: die Flüchtlingskrise;
die Schengen- und
Dublin-Krise, vernachlässigter Schutz der Schengen- bzw.
EU-Außengrenzen.
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: der Bruch der Verträge
von Schengen und Dublin durch Griechenland und Italien
und
auf der Balkanroute auch durch Ungarn, Österreich,
Deutschland; die ›Dehnung‹ des Einreiserechts
und des Asylrechts; die Nichtbeachtung des Unterschieds
von Asylbewerbern und ›Wirtschafts-
und Sozialmigranten‹.
Das Hauptproblem: die fehlende Reflexion der
EU-Politiker darüber,
wie in der Asylfrage die Rechtsstaatlichkeit (Genfer Konvention)
gewahrt
werden kann, ohne dass die Visumspflicht bei Einreisen
in den Schengen-Raum (Schengen-Vertrag) verletzt wird.
/ Dazu kommt die Inhumanität
des Dublin-Abkommens: das zwar rechtsstaatliche, aber inhumane
Verfahren der Asylberechtigungs-Überprüfung in der
EU. Grob gesagt:
erst vertragswidrig alle ohne Pässe oder Visum in
den Schengen-Raum
einreisen lassen, dann in Lagern zusammenpferchen und monatelang
passiv warten lassen, dann wieder rauswerfen.
Ein weiteres Hauptproblem: das deutsche Interesse an einem
humanitären
Image und damit die Tendenz zum idealisierenden Hype. Merkels »Wir
schaffen das.«
Die Moralkeule: ›europäische Solidarität‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik:
der Bruch bzw. die ›Dehnung‹ des
geltenden Rechts und Gesetzes; der European Stability Mechanism
(ESM); die Staatsanleihen-Aufkäufe der Europäischen
Zentralbank
(EZB); die Übertretung des Fiskalpakts (Staatsverschuldung).
Die dahinterstehende Krise: die Eurokrise, die Schuldenkrise, die Griechenlandkrise;
die Vermeidung – um der Erhaltung des ›starken Euro‹ willen – des Euro-Austritts Griechenlands (wenn nicht sogar Italiens),
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: Im Namen der ›europäischen
Solidarität‹ wird heute in Europa die Finanzierung insolventer
Staaten und Banken durch die Steuerzahler anderer Staaten gerechtfertigt,
obwohl der Maastricht-Vertrag sie verbietet. Damit verbunden ist
die ›Dehnung‹ von Recht und Gesetz.
Das Hauptproblem: unverantwortliches und unsolidarisches Schuldenmachen;
die Klientelpolitik und die Korruptheit der Eliten in einigen
EU-Südstaaten.
Die Moralkeule: ›Gleichheit für alle‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Instrumentalisierung
von Toleranz und Mitleid im Namen maximalistischer Moral, eine Instrumentalisierung,
die vor allem mit Opfer-Mythen arbeitet; die politischen
und gesellschaftlichen Behauptungs- und Umverteilungskämpfe
von Minderheiten um Geld, Posten, Quoten.
Die dahinterstehende Krise:
Zunächst einmal: der legitime Kampf um formale Gleichheit vor dem
Gesetz, z.B. der Frauen im Berufsleben; der Homosexuellen in der
Frage der Gleichstellung mit den Heterosexuellen etc.
Damit zusammenhängend: die krisenhaften Strukturveränderungen
der Arbeit (Flexibilisierung, Automatisierung, Digitalisierung, Massenentlassungen
etc.) und die daraus folgenden Behauptungs- und Umverteilungskämpfe.
Aber auch: die Flüchtlingskrise und die damit zusammenhängenden
Behauptungs- und Umverteilungskämpfe der illegal Eingereisten; die
Behauptungs- und Umverteilungskämpfe von religiösen Minderheiten.
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: der multikulturelle
Kampf aller gegen alle um Hegemonie, Geld, Posten und Quoten, erkämpft
oft mit dem moralisierenden Missbrauch des Topos des Opfers
(›Wir sind Opfer der Verhältnisse‹; ›Wer nicht mit den
Opfern der Verhältnisse
mit leidet, hat kein Herz‹).
Das Hauptproblem: die Übergriffigkeit der Politik gegenüber
den
Lebensweisen, den ›Lebensformen‹ sowohl von
Mehrheiten als auch
von Minderheiten. Vor allem die Idealisierung, die Verabsolutierung
und die moralische und manchmal rechtliche Privilegierung
milieuspezifischer
Werteprovinzen, eine Verabsolutierung, die über
die allgemein
notwendige Toleranz hinausgeht.
Die Moralkeule: ›Allen Völkern die Freiheit bringen‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die
Expansionspolitik der EU-Kommission, oder gröber gesagt:
der imperiale Hype der EUKommission
(inzwischen durch Putins völkerrechtswidrige Ukraine-Akionen
stark gedämpft).
Die dahinterstehende Krise: die Ukrainekrise. (Aber
auch die damalige,
als ›arabischer Frühling‹ titulierte Krise,
in welcher europäische Politiker
sich auf dem Tahiri-Platz in Kairo einmischten.)
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: die
hektische, imperiale EU-Osterweiterung und auch sonstige Einfluss-Erweiterung;
das
Interesse am Fracking in der Ukraine: das Interesse an
einem ›starken
Euro in einem starken Europa‹ bzw. an einem ›starken
Deutschland in
einem starken Europa‹.
Das Hauptproblem: die Übergriffigkeit vor allem gegenüber
den Interessen
Russlands.
Das sind die Dimensionen von ›Europa mit der Moralkeule‹,
die ich
analysieren möchte.
Die Berufung auf Werte kann eine gute Sache sein, jedenfalls
dort, wo
man sich auf Menschenechte, die Menschenwürde, also
auf naturrechtliche
Werte beruft, die in den Verfassungen enthalten sind.
Und selbstverständlich
ist es eine gute Sache, sich auf die in den Verfassungen
enthaltenen
Werte zu berufen. Aber Verfassungen sind keine Moralkeulen.
Sie sind keine moralischen Einrichtungen. Es werden damit
Interessen
realisiert, Interessen der Bevölkerungen an Sicherheit,
Friedenserhaltung,
Rechtssicherheit, sozialer Absicherung etc. Die Verfassungsgerichtsbarkeit
ist keine karitative Institution.
In der Realität stehen sich hier gesellschaftliche Bereiche
gegenüber, die nicht identisch sind und auch nicht
identisch gemacht werden können: das Herz versus
das Recht; Karitas versus Politik; ausgleichende Gerechtigkeit
versus strafende Gerechtigkeit; Barmherzigkeit versus
Prinzipienreiterei. Das sind gegensätzliche Bereiche, die sich zwar auch
in den Verfassungen überschneiden, die jedoch nicht in vollständige Übereinstimmung
gebracht werden können und auch nicht sollen.
|